Ä ganz’ Buch könnt’ ich schreib’!

Predigt zu Allerseelen

Jetzt sind die Tage, an denen so mancher von uns über den Friedhof schlendert, von Grab zu Grab, die Namen liest und ausrechnet, wie alt der Verstorbene geworden ist. Bei den Toten, die ich gekannt habe, stehen mir sofort Gesichter vor Augen. Ich höre bestimmte Worte und denke vielleicht an bestimmte Erlebnisse mit ihnen. Aber bei den anderen bleiben die Namen Schall und Rauch – und die Jahreszahlen dürre Daten. Und dabei hätte jeder, der da unter der Erde liegt, soviel zu erzählen.

"Ä ganz’ Buch könnt’ ich schreib’!" Wie oft sagen das ältere Leute. Und sie denken dabei an das Schwere, das sie durchgekämpft und an die Schwierigkeiten, die sich ihnen in den Weg gestellt haben: die Schwiegereltern, die nie damit zurecht gekommen sind, dass ihr Sohn ausgerechnet diese Frau ins Haus gebracht hat; die Nachbarn, die wegen einer Kleinigkeit bis heute nachtragend sind; mit wie wenig Geld sie in der Nachkriegszeit auf engstem Raum die große Familie über die Runden gebracht haben.

"Ä ganz’ Buch könnt’ ich schreib’!" Bei diesem Satz schwingt auch wenig Wehmut mit. Wehmut darüber, dass das Leben so schnell vorbei gegangen ist. Wehmut darüber, dass so viel Güte und Kraft ins Leben investiert worden ist, aber am Ende doch keiner so richtig Notiz davon nimmt.

"Ä ganz’ Buch könnt’ ich schreib’!" Da schwingt auch ein wenig Traurigkeit mit: So viel Erfahrungen wurden gesammelt. So viel Wissen angeeignet. Aber niemand fragt danach. Im Gegenteil: Wenn die Rede darauf kommt, wird abgewehrt: Komm, hör doch auf, das kennen wir doch schon! Wie oft willst Du es denn noch erzählen?

Liebe Leser, wenn wir an den Grabsteinen vorbei gehen und Namen lesen, dann dürfen wir sicher sein: Jeder dieser Namen hätte ein ganzes Buch schreiben können. Mit jedem Sarg ist ein großer Erfahrungsschatz und ein mühsam erworbenes Know how des Lebens ins Grab gesunken.

Aber was wir heute am Allerseelentag als Christen feiern und hoffen, ist: Der Stoff unseres Lebensbuches ist nicht umsonst zusammengetragen, durchlebt und durchlitten. Meisterhaft hat das der AIDS-Pfarrer im Großraum Stuttgart, Petrus Ceelen, in seinem Gedicht "Zu guter Letzt" zur Sprache gebracht:

Mein Gott,

wenn ich zu dir heimkehre,

hältst du mein Buch

in deinen Händen.

Dann wirst du mir

den Titel eröffnen,

den du meiner Geschichte

gegeben hast.


Dann werde ich mein Leben

mit ganz anderen,

mit deinen Augen sehen.

Dann werde ich

auch das schwierigste Kapitel

vollends verstehen.

Dann werde ich

manche dunkle Seite

endlich begreifen.

Zu guter Letzt

werde ich erkennen,

wie du auf krummen Zeilen

gerade geschrieben hast.

Wenn ich zu dir heimkehre,

hältst du mein Buch

in deinen Händen.

(P. Ceelen, Worüber man nicht spricht, Ostfildern 1997, 175.)


Pfarrer Stefan Mai

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