Die Kunst der Heiligkeit

Predigt zum Allerheiligenfest 2002

"Heilige" waren die Heiligen auch nicht. Dieser Ausspruch macht im ersten Moment stutzig. "Heilige" waren die Heiligen auch nicht- diese so scheinbar unheilige These will aber anregen, darüber nachzudenken, was einen Menschen zum Heiligen macht, was es auf sich hat, mit diesem großen Wort "Heiligkeit".

Die provozierende Behauptung "Heilige" waren die Heiligen auch nicht wendet sich gegen manch seltsame Vorstellung von Heiligen, die sie aus der Realität ihres Lebens zu sehr enthebt und sie zu "komischen Heiligen" oder zu "seltsamen Patronen" stilisiert. Sie versucht deutlich zu machen: Heilige waren Menschen wie du und ich. Sie hatten Stärken und Schwächen, wussten nicht auf alle Probleme Lösungen. Sie mussten selbst um ihren Glauben ringen. Sie kannten Niederlagen und Enttäuschungen. Auch ihr Leben war ein täglich neues Ringen und spielte sich wie das unsrige in den Niederungen des Alltags ab und keineswegs in schwindelnder spirituellen Höhe. Worin aber besteht dann ihre Heiligkeit?

Mir hilft zum Verständnis eine kleine Geschichte von Bruce Wilkinson:

Ein Mensch stirbt und kommt in den Himmel. Petrus erwartet ihn am Himmelstor und führt ihn durch prachtvolle Straßen, die herrlichen Villen und die zauberhaften Plätze, auf denen überall Musik erklingt. Inmitten der ganzen Pracht entdeckt der Neuankömmling eine große graue Lagerhalle. Er merkt, dass ihn Petrus immer wieder von diesem Gebäude ablenken möchte. Als der Mensch bittet, das Innere dieser eigenartigen Halle sehen zu dürfen, lehnt Petrus ab. "Ich glaube nicht, dass dir der Inhalt gefallen wird", sagt er. Aber der Mensch bleibt hartnäckig, und schließlich gibt Petrus nach. Er lässt den Neuen in das Gebäude, das tatsächlich eine Lagerhalle ist. Bis unter die Decke ist sie gefüllt mit großen Kisten. Jede Kiste trägt einen Namen, und schließlich findet der Neuankömmling seine eigene. Petrus warnt davor, die Kiste zu öffnen, aber der Mensch lässt sich nicht davon abhalten. Als er in seine Kiste schaut, muss er laut seufzen. Ein tiefes Seufzen des Erkennens und Verstehens. Petrus kennt es gut. So seufzte jeder, der in seine Kiste schaute. Denn in der Kiste fand der Mensch all die großen Gaben und wunderbaren Segnungen, die Gott ihm zugedacht hatte. Aber er hatte nie darum gebeten, und deswegen ruhen sie unverbraucht und eingelagert im Himmel.

Wortlos schließt Petrus den Deckel und schiebt die Kiste an ihren Ort zurück …


Liebe Leser, ich vermute, so eine Überraschung wie dem Menschen im Himmel könnte jedem von uns blühen. Hat doch jeder, der ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat, das Gefühl: Ich tue, was ich kann. Es läuft so einigermaßen. Ich habe’ mein Auskommen. Das Leben geht tagtäglich so seinen Trott. Viel Neues erwarte ich nicht mehr.

Keine Angst, wer so lebt, dem bleibt der Himmel nach der Geschichte keineswegs verschlossen. Aber die Kunst der Heiligkeit besteht darin, Gottes Gaben, die er mir zugedacht hat, zu entdecken und sie als meinen großen Schatz im Leben zu entfalten. Die Kunst der Heiligkeit besteht darin, mit meinen mir geschenkten Begabungen und besonderen Talenten achtsam umzugehen und fruchtbar zu machen, auch wenn es auch noch so unscheinbare Gaben sein mögen. Die Kunst der Heiligkeit ist: Mit meinen mir geschenkten Gaben die kleinen Aufgaben im Laufe des Tages bis hin zu den großen Aufgaben meines Lebens zu bewältigen und so gestalterisch am Kunstwerk meines eigenen Lebens mitzuwirken.


Pfarrer Stefan Mai

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