Mittendrin draußen: psychisch krank

Gestaltung zum Caritassonntag am 29.September 2002

Im Altarraum wird eine Pantomime dargestellt:

Circa 10 Personen stellen einen "Tanz des Lebens" dar, lachen einander zu, fassen einander an den Händen, gehen beschwingt und tänzelnd durch den Raum. Einer Person aus dem Kreis entgleitet langsam die bunte Jacke und fällt zu Boden. Die Person ist völlig schwarz gekleidet und verliert langsam den Anschluss an den Kreis. Schließlich sinkt sie in sich zusammen. Der Tanz des Lebens geht weiter. Aber die Tänzer nehmen die Zusammengebrochene wahr und erschrecken. Der Tanz des Lebens kommt zum Stocken. Sie beugen sich über die am Boden liegende, stupsen sie an, haben aber keinen Erfolg. Sie beraten in kleinen Grüppchen, zucken mit den Achseln. Zögernd setzt sich der Tanz des Lebens wieder in Bewegung, gewinnt wieder an Fahrt. Die Tänzer machen einen Bogen um die daliegende, steigen schließlich darüber. Die schwarz gekleidete Person kommt langsam wieder zu sich, rappelt sich auf, stellt sich abseits, unternimmt zögernde Versuche, wieder Anschluss zu finden, wendet sich wieder ab. Manchmal geht einer aus dem Kreis zu ihr hin, sie geht wieder einen Schritt auf den Kreis zu …( offener Schluss)

Eine ehrenamtliche Helferin des sozialpsychiatrischen Dienstes aus unserer Gemeinde tritt an das Mikrofon und erzählt:

Ich kenne auch so einen. Ich bin Laienhelferin beim sozialpsychiatrischen Dienst und betreue einen Mann, der schon zwei Jahre alleine lebt, isoliert, ohne Kontakt zur Außenwelt. Gefangen in sich selbst! Mittendrin und doch draußen!

Er lässt niemanden in seine Wohnung, die Vorhänge hält er immer geschlossen. Öffentliche Verkehrsmittel kann er nicht nützen, da er sich gefangen fühlt. Das Telefon nimmt er nur ab, wenn er den genauen Zeitpunkt des Anrufes weiß und wer dran ist. Die Türe macht er auch nur auf, wenn jemand ein Klingelzeichen und die Zeit zuvor ausgemacht hat.

Mit seiner Mutter telefoniert er einmal in der Woche. Leider wohnt sie weit weg und hat keinen Führerschein. Sonst ist der Fernseher und der Computer seine Gesellschaft.

Durch seine Mutter wurden wir auf ihn aufmerksam. Einmal in der Woche geht jemand von uns mit ihm zum Einkaufen. Es muss immer dasselbe Geschäft sein.

Ich brachte ihn eines Tages zum Arzt. Man hatte mich angekündigt und zu mir gesagt, ich soll versuchen pünktlich zu sein, denn sonst kommt es vor, dass er die Türe nicht mehr aufmacht. Ein paar Minuten war ich verspätet, trotzdem ging er an die Sprechanlage; scheinbar war ihm der Termin beim Arzt wichtig. Ich sah ihn zum ersten Mal. Groß, blass, mit Sonnenbrille stand er vor mir, obwohl es ein trüber Oktobertag war.

Er entschuldigte sich wegen der Sonnenbrille, aber er fühlt sich so sicherer und nicht beobachtet, meinte er. Beim Arzt ging er ständig auf und ab, um ruhiger zu werden. Die Sonnenbrille hatte er noch immer auf. Mir war es egal, wichtig war mir, dass er sich von mir nicht bedrängt fühlt

Anschließend gingen wir einkaufen. Wie mechanisch legte er seine Waren in den Korb – rechts – links – rechts – links. Als er wieder draußen war, war er sichtlich erleichtert. Ich fragte, ob er mit auf einen Kaffee gehen will. Wenn niemand im Café sitzt, dann schon. Es waren wirklich nur 2 Personen im Café. Wir machten uns vorher schon aus, falls er es nicht aushalten konnte, dann soll er hinaus gehen und warten. Er saß mit dem Rücken zur Wand, die Türe im Blickfeld. Die Sonnenbrille nahm er auch da nicht ab. Ich saß ihm gegenüber.

Es schien, als wolle er alles loswerden, so sprudelte es aus ihm heraus. Er erzählte von seiner Familie, seiner Kindheit, seinen Freunden, seinem Studium. Plötzlich war alles anders! Er glaubte, sein Studium nicht mehr zu schaffen, meinte, dass die Menschen ihm nur Schlechtes wollen, die Freunde über ihn reden, seine Familie ihn ablehnt. Er zog sich zurück, ging nicht mehr weg. Seine Freundin kam mit dieser Art nicht zurecht und verließ ihn. Da er nirgends mehr auftauchte, wurde er bald von allen vergessen. Wir fuhren wieder vor seine Wohnung, dort nahm er seine Brille ab – ich sah seine Augen: groß und leer kamen sie mir vor. Sie hatten kein Leuchten und Strahlen in sich, wie es sonst bei einem glücklichen Menschen ist. Er bedankte sich und wir machten einen genauen Zeitpunkt für unser nächstes Treffen aus, um einzukaufen und ihn ein wenig aus seiner Isolation zu holen.

Nun ist er auf Kur, keiner weiß, wie es sein wird, wenn er wieder zuhause ist. Wird er sein Leben alleine führen können, wird er einer Arbeit nachgehen können? Oder war die Geborgenheit der Klinik ein Schutz für ihn und er kann nur da bestehen?

Einleitende Worte zum Evangelium:

Wie oft wird in den Evangelien erzählt, dass Jesus psychisch kranken Menschen begegnet. Jesus war kein Arzt oder Psychotherapeut. Und doch hatte er eine ungeheuere Anziehungskraft und positive Ausstrahlung auf psychisch Kranke. Intuitiv hatte er eine Art, die Veränderungsprozesse bei diesen Menschen bewirkte. Er verfiel nicht in Gefühlsduselei und übertriebenes Mitleid, hatte aber auch keine Angst vor der Begegnung.

Im heutigen Evangelium (Mk 5,1-20) begegnet Jesus einem Mann, der nur in Lumpen gekleidet ist und in Grabhöhlen haust. Welch ein sprechendes Bild: Da ist ein Mensch mitten im Leben schon tot, gefühlsmäßig und sozial. Er ist ausgeschlossen von der Gemeinschaft der Menschen. Er ist bei anderen abgeschrieben und hat sich selbst abgeschrieben.

Jesus geht auf diesen Menschen zu und stellt ihm eine überraschende Frage. Nicht "Wie geht es dir?" oder "Was fehlt dir?" Er fragt nach dem Namen. Und die Antwort des Kranken ist bedrückend: "Ich heiße Legion" – das heißt: Ich habe keine Persönlichkeit mehr, weiß selbst nicht mehr, wer ich bin. Ich spüre nur: Ich bin in tausendfacherweise fremdbestimmt. Ich bin ein Niemand und habe meine Identität verloren.

Jesus steuert dagegen, möchte durch seinen Umgang mit dem Kranken die Fremdbestimmung durchbrechen, ihm vermitteln: Ich nehme dich wahr und achte dich in deiner Einmaligkeit.

Was niemand für möglich hielt: Der Besessene wird wieder zu einem Ich. Er kommt wieder mit sich selbst zu Rande. Es heißt: "Er saß in ordentlichen Kleidern da und war wieder bei Verstand". Allerdings heißt es von den anderen, die dies beobachtet haben auch: "Sie fürchteten sich." Es ist nicht einfach, einem schwierigen Menschen zu begegnen.

Evangelium: Mk 5,1-20


Pfarrer Stefan Mai

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