Geh, Joschi, sag´ mir doch a Stückerl Tora

Predigt zum 23.Sonntag im Jahreskreis (Mt 18,19f)

Einleitung:

Der inzwischen verstorbene Pfarrer Hermann Josef Coenen schrieb einmal: "In den Regalen der Supermärkte gibt es zunehmend Fertigprodukte für Einzelpersonenhaushalte. In Großstädten wie Hamburg, Berlin oder Frankfurt lebt schon mehr als die Hälfte der Bevölkerung als Single. Wir leben in einer Welt der Individualisten, wo sich alles um den einzelnen dreht: meine Selbstverwirklichung, meine Lohnerhöhung, mein Glück, meine Krankheit, meine Lebensversicherung ..."

Dieser Hang zum Individualismus in unserer westlichen Welt geht bis in den Bereich des Religiösen: "Glaube ist Privatsache, sagt man. Jeder nach seiner Fasson. Das mach ich mit meinem Herrgott allein aus. Zur Kirche gehe ich, wenn ich das Bedürfnis habe ..."

Das heutige Evangelium steht völlig quer zu diesem Trend. Da ist von Gemeinschaft die Rede. Da ist davon die Rede, dass religiöser Individualismus nicht genügt.

Predigt

In der jüdischen Synagoge gilt bis heute die Regel: Nur wenn mindestens zehn Männer versammelt sind, kann der Gottesdienst stattfinden. So manche jüdische Gemeinde hat damit ihre liebe Müh und Not, immer diese Mindestzahl der zehn Männer zusammenzubringen. Hinter dieser Vorschrift des Minjan steckt die Überzeugung: Gemeinsames Beten und Tun bewirkt mehr, stärkt besser das religiöse Gefühl und das jüdische Zusammengehörigkeitsbewusstsein als das Gebet einzelner.

Obwohl es diese Vorschrift des Judentums gibt, ist es eine Grundüberzeugung der alten Rabbinen: "Wenn drei beieinandersitzen und sich mit der Tora beschäftigen, rechnet es ihnen Gott so an, dass sie eine Gemeinde vor ihm geworden sind. Wenn zwei beieinandersitzen und Worte des Gesetzes sind ihr Gespräch, so weilt die Gottheit selbst unter ihnen."

In dieser Tradition des jüdischen Volkes bewegt sich die jüdische Anekdote, die Martin Buber erzählt hat. Sie spielt in Wien, in den dreißiger Jahren, vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Zwei jüdische Droschkenkutscher sitzen neben ihren Wagen an einem Halteplatz zusammen. Es regnet, sie frieren, das Geschäft geht schlecht, die Fahrgäste bleiben aus. Da stößt der eine seinen Nachbarn an und sagt zu ihm, sehnsüchtig bittend: "Geh, Joschi, sag mir doch ein Stückerl Tora." Das heißt: Sag doch ein paar Verse aus den fünf Büchern Mose auf und erkläre sie mir. Der Droschenkutscher drückt damit die Hoffnung aus, dass die Worte aus dem heiligen Buch Israels und das Gespräch darüber ein kleiner Lichtschimmer für ihn sind, ein Stück Trost und neue Wegweisung.

Diese Liebe zur Schrift und das Vertrauen auf die Kraft seiner Worte ist kennzeichnend für das Judentum. Diese Tradition hat es stark gemacht und Anfeindung und Verfolgung über Jahrhunderte hinweg überstehen lassen. Dieses Stückerl Tora, das Juden miteinander lesen und hören, ist für sie wie eine Garantie: Gott ist da, er vergisst sein Volk nicht, mögen auch oft manche harte Tatsachen dagegen sprechen.

Der Jude Jesus kennt diesen Kern jüdischer Frömmigkeit. Und diese jüdische Tradition steht auch im Hintergrund des Satzes aus dem heutigen Evangelium: "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen."

Ich denke dieses Wort wird in Zukunft wieder aktueller werden in unseren christlichen Gemeinden. Wenn Glaubensweitergabe nicht mehr selbstverständlich geschieht, wenn die Kette der Glaubenstradition in immer mehr Familien abreißt, sagt mir dieses Verheißungswort Jesu: Der Glaube an Jesus geht nicht verloren, wo eine Oma ihren Enkel einmal untertags in die Stille einer Kirche führt, eine Kerze entzündet und so im Kind das Gefühl für eine transzendente Welt weckt.

Wenn in den großen Kirchen der Großstädte gähnende Leere die Besucher von Gottesdiensten erschreckt, versichert mir diese Verheißung Jesu: Der Glaube geht nicht verloren, wenn sich auch oft nur ein Häufchen alter Frauen zum Rosenkranz trifft oder ein Kreis von Jugendlichen sich Gedanken über eine Geschichte aus der Bibel macht.

Wenn Glaubenswissen mehr und mehr schwindet, unser großer Gebetsschatz immer weniger gefragt wird, mich glauben die Verheißung Jesu will lassen: Der Glaube geht nicht verloren, wo eine junge Mutter ihrem Buben am Abend eine Geschichte aus der Kinderbibel vorliest und mit ihm das Bild dazu anschaut.

Liebe Leser, wir werden in Zukunft wieder mehr lernen müssen: Das ist das eigentliche Geheimnis einer christlichen Gemeinde: Nicht, ob da möglichst viel los ist. Nicht die Anzahl der Veranstaltungen und Gruppen. Nicht der tolle Erlös eines Pfarrfestes, nicht ob wir in der Öffentlichkeit groß rauskommen. Das Geheimnis der christlichen Gemeinden wird sein: Ob wir dem Wort Jesu glauben schenken "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen", ob Menschen erfahren dürfen, wer nach der Bedeutung seiner Worte fragt, der geht nicht leer aus. Die Zukunft unserer christlichen Gemeinde wird davon abhängen, ob noch Menschen den Wunsch äußern: "Geh, Joschi, sag mir doch ein Stückerl Tora!" – und ob es Menschen gibt, die sich dann dazusetzen.

Fürbitten

Zu unserem Herrn und Gott beten wir voll Vertrauen:


Für unsere Ahnen, die uns den Glauben übermittelt haben

Für alle, deren schlichte Frömmigkeit uns fasziniert und hilft

Für alle, die uns den Respekt vor dem Heiligen lehrten


Für alle, die sich zu Gottesdiensten versammeln

Für alle, die sich zu Gebet und Meditation treffen

Für alle, die immer wieder neu nach der Bedeutung der Worte Jesu fragen


Für alle, die miteinander nicht nur über das Wetter reden

Für alle, die einander um Verzeihung bitten

Für alle, die ihre Lebenserfahrungen mitteilen


Für alle, die sich mutig zu ihrem Christsein bekennen

Für alle, die sich in unseren Pfarrgemeinden engagieren

Für alle, die den Kontakt zu ihren Gemeinden verloren oder bewusst abgebrochen haben


Pfarrer Stefan Mai

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