Die Macht der Gier

Predigt zum 22. Sonntag im Jahreskreis (Mt 16,21-17)

Einleitung

Als ich vor 14 Tagen mit meinem Freund vom Urlaub aus den Bergen zurückfuhr, da lief im österreichischen Rundfunk eine Sendung mit dem Titel "Zwischen Gier und Kontrolle". Schon allein wie der österreichische Rundfunksprecher in der Dialektfärbung das Wort "Gier" aussprach, ging unter die Haut. Zum anderen wurde mir dabei wieder einmal bewusst, dass dieses alte Wort zu den großen Machtworten unseres Zeitgeistes gehört, auch wenn es selten in den Mund genommen wird. Und so sprang es mich direkt an, als ich das heutige Sonntagsevangelium las.

Predigt

Ein Kunstkenner besuchte einmal einen japanischen Kunsthändler. Dieser zeigte ihm ein herrliches Kakemono, ein auf Seide gemaltes Rollbild. Der Besucher war davon so beeindruckt, dass er versunken davor saß. Dann aber wurde er unruhig und wartete in der Hoffnung, der Händler würde ihm noch weitere Bilder zeigen. Der Händler bemerkte seine Ungeduld. Deshalb fragte er ihn: "Ist es nicht schön?" "O ja", erwiderte ihm der andere, "aber ich würde gerne noch mehr Kakemonos sehen!" "Sind Sie denn tatsächlich noch in der Lage, nach einem solchen Erlebnis weitere Kakemonos zu betrachten?", fragte ihn der Kunsthändler erstaunt.

Woran ich Gefallen finde, das reizt. Was mich fasziniert, das weckt die Sehnsucht nach mehr, das nährt in uns Menschen schnell das Begehren. Und wenn das Begehren erst einmal richtig aufwallt, klopft schnell die Gier an der Tür, jener triebhafte Impuls, hinter dem ständig die Angst hervorschaut, nicht genug zu bekommen, oder zu kurz zu kommen.

"Sind Sie tatsächlich in der Lage, nach einem solchen Erlebnis noch weitere Kakemonos zu sehen?", fragt der Händler den gierigen Kunstfreund? Hinter dieser Frage steckt die Gewissensfrage: Machst du dir nicht durch deine Gier nach immer mehr dein starkes Erlebnis kaputt? Du willst immer mehr, aber bringst du dich durch diese verfluchte Gier nicht um die Intensität deines Gefühls und letztlich um das hohe Gut der Lebenszufriedenheit?

Sind Sie tatsächlich in der Lage, immer mehr zu erleben? Tut dem Menschen diese unbändige Gier nach immer mehr Geld, nach immer besseren Komfort, nach immer mehr Erlebnis auf Dauer wirklich gut? Oder steht der Mensch durch diese rasche Giererfüllung nicht in der Gefahr, das Steuer seines Lebens aus der Hand zu geben und somit mehr gelebt zu werden als zu leben. Ist es nicht das Fatale an der Gier, dass sie den Menschen immer gehetzter macht, immer kürzer die Freude über Dinge werden lässt, die er sich leistet, und die Nachwirkzeit von gemachten Erlebnissen immer kürzer wird ?

Mich ins Einkaufsgewühl gestürzt

Geschenkpapier, Servietten, chinesische Stäbchen,

ein T-Shirt, eine Schallplatte, zwei Bücher,

Briefumschläge, Jasmin-Blüten erstanden

98,45 Mark

um mich zu erfreuen

alles um mich herum gelegt

und auf den Freudentaumel gewartet

so deprimiert

war ich schon lange nicht


Umschreibt nicht Edith Soballa mit diesem Gedicht mit heutigen Worten, wozu Jesus mit seinen Worten zum Nachdenken anregen will: "Wer sein Leben retten will wird es verlieren ... Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt?" (Mt 16,25f.).

Diese Worte Jesu sind gekoppelt mit der Schelte an Petrus, der das Schwere im Leben ausblenden will, und mit dem Aufruf, das Kreuz auf sich zu nehmen. Ich denke, hinter dieser Koppelung – Warnung vor Gier und Kreuztragen – steckt die Beobachtung: Menschen, die nicht dem inneren Trieb der Gier nach immer mehr entgegensteuern können, bringen in den wirklichen Härtefällen des Lebens auch immer weniger die nötige Widerstandskraft auf, die Kreuze des Lebens anzupacken und mit ihnen fertig zu werden. Wer immer mehr im Leben will, der findet sich immer schwerer damit ab, wenn das Leben mit Hartem und Schwerem dazwischenfunkt.

Liebe Leser!

"Sind Sie denn tatsächlich in der Lage, nach einem solchen Erlebnis weitere Kakemomos zu betrachten?" fragte der Kunsthändler erstaunt.

Vom griechischen Philosophen Sokrates wird erzählt: Sooft Sokrates über den Markt ging, pflegte er beim Anblick der Waren, die dort in Hülle und Fülle feilgeboten wurden, auszurufen: "Wie zahlreich sind doch die Dinge, deren ich nicht bedarf!"


Pfarrer Stefan Mai

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