Ein Stückchen Gerechtigkeit

Predigt zum 14. Sonntag im Jahreskreis (Mt 11,25-30)

"Es war einmal ein König, der hatte drei Söhne, davon waren zwei klug und gescheit, aber der dritte sprach nicht viel, war einfältig und hieß nur der Dummling." So beginnt das Märchen von den "drei Federn".

Wie in diesem Märchen ist es in vielen. Wenn von drei Brüdern oder drei Schwestern die Rede ist, oder der König seine Tochter dem tüchtigsten Mann des Landes geben will und drei Bewerber sich einstellen, dann ist gewöhnlich von zweien die Rede, die geschickt und hochbegabt sind, die angesehen sind und von denen viel erwartet werden kann. Der dritte kann dagegen den beiden das Wasser nicht reichen, ist oft naiv und tölpelhaft. Kaum einer würde ihm etwas zutrauen. Aber im Lauf der Geschichte wird die Rangordnung auf den Kopf gestellt. Die Begabten und mit Vorschusslorbeeren Bedachten erweisen sich als unmenschliche Karrieregeier, gehen über Leichen oder arbeiten mit fiesen Tricks, versagen in wichtigen Momenten oder entpuppen sich als Angsthasen. Der Langsame, die Hässliche, der einfache Hirte aber bestehen die Bewährungsprobe mit Bravour, gehen nicht nur auf den eigenen Vorteil aus, sondern haben auf ihrem Weg auch noch einen Blick für die anderen und werden dafür fürstlich belohnt, während die Favoriten leer ausgehen.

Die Märchen lieben diesen Umsturz der Rollen und predigen unermüdlich: Nicht der Begabte, der Aktive, der Gutsituierte kommt mit dem ihm gestellten Aufgaben von vorneherein besser zurecht. Oft sind es im Leben die Unscheinbaren und Stillen, die blitzschnell die Herausforderung des Augenblicks kapieren und – ohne auf den eigenen Vorteil zu schielen – zum Wohl der Menschen handeln und so selbst glücklich werden.

Schon viele Jahrhunderte vor unseren Volksmärchen jubiliert Jesus, weil es vor allem die kleinen Leute sind, die ihn verstehen und denen etwas von Gott aufgeht. Es sind nicht die Klugen und Weisen, denen sich nach Jesus Gott offenbart, sondern die kleinen Leute, die schlichten Seelen, die Geplagten, die unter den Lasten des Lebens stöhnen. Wer meint, schon alles besser zu wissen, wer sich mit eigenen Mitteln alles leisten kann, der kann nicht mehr empfänglich, hellhörig und aufnahmebereit sein. Was kann dem Gott schon noch bieten?

Liebe Leser, ich liebe das heutige Evangelium, denn mit diesen Worten rückt Jesus so manche gängige Sehweise und eingelaufene Werte- und Beurteilungsmuster zurecht, die sich zu allen Zeiten in die Köpfe der Menschen eingeschlichen haben. Den Jubelruf Jesu möchte ich mit meinen Worten ausfalten:

Ich preise dich Gott, dass du das Erleben von Glück nicht an Herkunft und Gehaltsstufe gebunden hast, dass es nicht abhängig ist vom gut situiertem Elternhaus und gehobener Schulbildung.

Ich danke die Gott, dass keineswegs die Intelligenzler das Leben besser bestehen als die, die über die Hauptschule nie hinauskamen. Ich danke dir, dass so viele kleine Leute, die nichts zu sagen und die bei uns keine große Lobby haben, ihr Leben mit Bravour meistern.

Ich danke dir, Gott, dass diejenigen, die Geld, Stellung und Ansehen in der Öffentlichkeit haben, keineswegs im Vergleich zu den unteren Schichten die besseren Karten und Chancen in der Gestaltung von menschlichen Beziehungen haben. Ich danke dir, Gott, dass die, die ihre Nase immer vorn dran haben, im Leben nicht mehr zu lachen haben und auch das Schwere nicht leichter verkraften als die, die normalerweise das Nachsehen haben.

Ich preise dich, Gott, dass derjenige, der in der Stunde ein Mehrfaches oder gar Vielfaches eines kleinen Handwerkers verdient, nicht von vorneherein glücklicher und zufriedener bei seiner Arbeit ist als der schlichte Hilfsarbeiter.

Ich danke dir, Gott, dass nicht die Begabten von vorneherein auch die Lebenstüchtigen sind und einen besseren Biss im Leben haben.

Ich preise dich Gott, dass die Gescheiten und Erfolgreichen von dir nicht mehr erspüren als die Schlichten und Gescheiterten. Ich danke dir Gott, dass religiöse Empfindsamkeit nicht nur etwas ist für Wohlanständige und nicht an Rechtgläubigkeit gebunden ist.

Ich preise dich, Gott, dass die im Leben Geschonten nicht von vorneherein das Leben dankbarer empfinden als so mancher vom Leben Gebeutelter.

Dafür danke ich dir und preise dich, o Gott, weil ich darin wenigstens ein kleines Stückchen Gerechtigkeit schon in dieser Welt entdecke, in der die Felle so ungerecht aufgeteilt sind.


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de