Um Kleinigkeiten kümmert sich der Prätor nicht

Predigt zu Mt 10,26-33 (A/12-2002)

Ein römisches Sprichwort sagt: "Um Kleinigkeiten kümmert sich der Prätor nicht." Schon die alten Römer brachten mit diesem Sprichwort Grundsätze der modernen Organisationstechnik auf den Punkt: Je höher einer auf der Karriereleiter steigt, je mehr er oder sie in der Verantwortung steht, je besser bezahlt die Aufgabe ist, desto mehr erwartet man von ihm einen großen Wurf der Unternehmerphilosophie, Festlegen der großen Linien und Ziele, Wahrnehmen von Führungsaufgaben. Dafür wird er von Telefon, Kleinkram und Parteiverkehr abgeschirmt. Ihm steht ein ganzer Stab von Mitarbeitern und Beratern zur Seite, die auf den verschiedensten Gebieten Fachwissen mitbringen, wertvolle Vorarbeiten für den Chef leisten, gründlich recherchieren, Programme ausarbeiten, große Visionen in konkrete Detailschritte umsetzen. Um Kleinigkeiten hat er sich nicht zu kümmern. Darin soll er sich nicht verheddern. Dafür ist er viel zu hoch bezahlt. Seine Kräfte sollen gezielt eingesetzt und reserviert werden für die großen Auftritte oder die entscheidenden Überlegungen im Hintergrund. Lächerlich würde der Chef einer Riesenspeditionsfirma wirken, der mit dem Gabelstapler in den Magazinhallen herumfährt, oder der Supermanager, der im Winter in aller Herrgottsfrüh im Werksgelände Schnee schippt. Um Kleinigkeiten kümmert sich der Prätor nicht.

Nach diesen Prinzipien müsste man Gott, wie ihn Jesus im heutigen Evangelium schildert, schlechte Führungsqualitäten zuschreiben. Der passt auf, dass auf der großen Welt kein Spatz ohne seinen Willen zu Boden fällt, ja der zählt sogar die einzelnen Haare auf dem Kopf der Menschen. "Lass einen alltäglichen Menschen sagen, dass er ganz buchstäblich glaubt, dass er jede Sekunde von Gott umgeben ist. Geht er im Herbstwald, wo die Blätter von den Bäumen fallen, so fällt kein einziges ohne Gottes Willen: gib acht, er wird als verrückt angesehen," schrieb einmal der dänische Philosoph Sören Kierkegaard.

Um Kleinigkeiten kümmert sich der Prätor nicht. Der Gott, den Jesus verkündigt, verrückt diese Maßstäbe. Er hat – nach Jesus – geradezu eine Vorliebe für das Kleine. In seinen Augen zählen vor allem die kleinen Dinge des Lebens und des Alltags, wofür der Sperling und das Haar auf dem Kopf symbolischer Ausdruck sind.

Wie viele Menschen leiden heutzutage doch darunter, dass ihre Arbeit tagein tagaus trotz großer Mühe anscheinend nichts Großes bewegt. Wie viele schmerzt es, dass ihr Tun nie von sich reden macht, dass ihr Name nie groß herauskommt oder geachtet wird. Wie viele schließen daraus: Auch ich zähle nichts, auch ich bin eine Null.

Wer der Botschaft Jesu glauben kann: Der große Gott hat ein Auge für das Kleine und die Kleinen; dieser Gott bleibt nicht abgeschirmt in der Chefetage sitzen, sondern steigt vom Podest und lässt sich auf meine kleine Welt ein und nimmt Anteil daran – wer das glauben kann, der wächst nicht nur in seinem Selbstwertgefühl, bei dem schwindet auch die Angst vor den angeblich Großen und Mächtigen. "Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf gezählt. Fürchtet euch also nicht!"

Und im Übrigen, liebe Leser, aus meiner Lebenserfahrung heraus behaupte ich: Echte menschliche Größe unterscheidet sich von gespielter Aufgeblasenheit vor allem in einem: Sie schaut nie von oben herab sondern geht immer mit dem Kleinen auf Augenhöhe.


Pfarrer Stefan Mai

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