Getragen werden...

Predigt zu Ex 19,2-6 (A/11)

Eine Geschichte erzählt von einem Sattel, der sich eines Tages brüstete: "Ich trage den Reiter!" Und er sagte dies mit großem Selbstbewusstsein. Niemand widersprach ihm, nur ein einziger. "Bedenk´s genau!", riet ihm dieser. Der Sattel ging in sich und dachte in stillen Stunden über sich und sein Dasein nach. Und es wurde ihm bewusst: Es stimmt: Ich trage den Reiter, aber das Pferd trägt mich. Noch mehr: Das Pferd trägt nicht nur ihn, sondern darüber hinaus auch noch den Reiter. Deutlich erkannte er, dass er den Reiter nur tragen kann, weil er selbst ein Getragener ist. Plötzlich wurde es dem Sattel wohler und eine ganz neue Kraft stieg in ihm auf.

Nicht umsonst beginnt das menschliche Leben damit, dass ein werdendes Kind im Leib der Mutter über neun Monate hinweg getragen wird. Diese Zeit, an die sich kein Mensch erinnern kann, wird zum Urerlebnis für das Menschsein. Diese Sehnsucht, getragen zu werden, bleibt ein Leben lang. Wie oft werden kleine schreiende Kinder aus dem Bettchen gehoben und so lange getragen bis sie wieder still werden. Wie oft stellen sich die Kleinen beim Spazierengehen vor die Eltern und betteln: "Papa, Mama trag!" Und wie stark lebt die Sehnsucht in uns Erwachsenen, nicht fallen gelassen zu werden, manchmal - bildlich gesprochen - auf Händen getragen zu werden.

Wem dies wie dem Sattel einmal bewusst wird, ich selbst bin ein Getragener und kann deshalb Lasten tragen, der wird nicht nur im Leben bescheidener sondern auch gelassener. Der wird auch als Leistungsträger nicht überheblich und wird sich nicht aufspielen als hinge das Wohl der Welt allein von ihm ab. Wer sich selbst als Getragener erfahren darf, der kann auch leichter die Lasten des Lebens tragen und verkraften: den Beruf mit all seinen Belastungen, die Verantwortung für Menschen, die ihm anvertraut sind, die Probleme und angespannten Beziehungen, die er nicht sofort lösen oder bereinigen kann und ihm deshalb schwer auf den Schultern lasten. Wer sich selbst getragen fühlt, der vermag leichter so manches Leid, das ihm oder lieben Menschen aufgebürdet ist, zu tragen. Der fährt nicht so leicht aus der Haut, wenn er Mitmenschen auszuhalten hat, die nicht leicht zu ertragen sind. Der wird auch nicht so schnell an sich verzweifeln, wenn er seine eigene Erbärmlichkeit und Ohnmacht tragen und ertragen muss.

Das Volk Israel hatte im Lauf seiner langen Geschichte viel zu ertragen und auszuhalten. Ich bin sicher, die Zähigkeit und das Durchhaltevermögen, das es in ausweglosen Lagen immer wieder gezeigt hat, ist zurückzuführen auf sein Gottesbild. Immer wieder lesen wir in den Büchern des Alten Testaments Sätze wie: "Der Herr, dein Gott, hat dich auf dem ganzen Weg, den ihr gewandert seid, getragen wie ein Vater seinen Sohn" (Dtn 1,31). Oder den Satz des Psalms 68: "Gepriesen sei der Herr, Tag für Tag! Gott trägt uns, er ist unsere Hilfe!" Dem Volk Israel ging im Rückblick auf: Gott trägt uns, er trägt uns durch alle Not hindurch und aus schwerer Not heraus: "Ihr habt gesehen, was ich den Ägyptern angetan habe, wie ich euch auf Adlerflügeln getragen habe" (Ex19,4). Diese entscheidende Erfahrung: "Als Getragener kann ich selbst tragen und ertragen" bleibt ein tragfähiger Grund des Lebens, auch wenn dieser manchmal ins Wanken gerät.


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de