Positionswechsel

Predigt zum 10. Sonntag im Jahreskreis (Mt 9,9-13)

Einleitung

Im Mittelalter war die europäische Gesellschaft noch eine Ständegesellschaft. Und das konnte man sogar an den Kleidern sehen. Bestimmte Berufe, Leute vom Land oder Ausländer hoben sich deutlich voneinander ab. Die Bauern kamen in Kitteln aus grobem Leinen daher, ihre Frauen trugen Kopftuch und Schürze. Vornehmer gekleidet waren die Bürger und Krämer der Stadt. Sie standen aber weit hinter den Edelleuten zurück. Den Patriziern stand Kleidung aus Samt oder Damast zu. Die Gelehrten gingen in Seide.

Heute sind diese Zeiten vorbei. Aber in unseren Köpfen sind nach wie vor Stände und Unterschiede festzementiert.

Predigt

Der Ort, an dem ich stehe, ist Voraussetzung für das, was ich sehe. Diese Behauptung wollen wir ganz praktisch überprüfen. Dazu bräuchte ich ein Kind, das jetzt zu einem kleinen, leichten Spiel im Altarraum bereit ist. Wer sich darauf einlässt, muss sich an bestimmte Punkte des Altarraumes stellen und uns einfach erzählen, was er sieht.

Prediger benennt für das Kind Standorte, an denen es z.B. (1) den Altar, das Altarbild, (2) das Volk, (3) den Tabernakel und (4) auf dem Boden liegend das Gewölbe sehen kann. Bei jedem Standort fragt der Prediger: "Was kannst du sehen?"

Feste Positionen und die Konsequenzen


Bei diesem einfachen Spiel ist uns klar geworden: Mein Standpunkt bestimmt die Ausschnitte meiner Umgebung, die mir besonders in die Augen fallen. Der/die (Name des Kindes) hat sich nur ganz wenig bewegt – und schon hat er/sie eine völlig neue Sichtweise. Und das ist nicht nur im Kirchenraum so. Wer in einer bestimmten Gegend aufgewachsen ist, der liebt entweder die Berge oder das Meer. Wer in einer Stadt aufgewachsen ist, sieht das Dorf völlig romantisch oder fühlt sich dort nicht wohl. Wer in einer Akademikerfamilie aufgewachsen ist, der hat ein anderes Gefühl, wenn er ein Buch in die Hand nimmt, als ein begeisterter Bauernsohn, der täglich mit Tieren und der Natur zu tun hat. Ein Kind, das schon vom Vater in die Welt der Kunst und der Museen eingeführt wurde, entwickelt wahrscheinlich einen anderen Geschmack als ein Kind, das von klein auf als ein Spitzenfußballer im örtlichen Verein gespielt hat.

Was wir erleben, was wir sehen, wo wir aufwachsen, das prägt uns. Aber es legt uns auch fest. Wir spuren uns ein auf ein bestimmtes Denkgeleis, nehmen bestimmte Positionen ein. Und es fällt schwer, sich auf anderes umzustellen. Wie schnell heißt es dann auch: Du bist der Praktiker, du bist die Denkerin, du bist aus gehobenem Hause, und du stammst doch aus einfachen Verhältnissen!

Positionswechsel im Haus Jesu

Im heutigen Evangelium sind die Positionen auch ganz klar. Auf der einen Seite steht der Geldmensch Matthäus. Auf der anderen Seite sind die Leute von Kapharnaum, die mit diesem Zöllner nichts zu tun haben wollen. Aber Jesus bringt alles durcheinander. So erzählt es der Evangelist. Jesus setzt einen Positionswechsel in Gang.

Bei der folgenden Schilderung der Evangelienszene kann der Vorgang pantomimisch nachgespielt werden. Wichtig wäre ein Symbol, eine Trennwand oder ein Seil, für die Trennung der beiden Lebenswelten "Zollhaus" und "Haus Jesu".


Er sieht den Zöllner an seinem Zolltisch sitzen. Er fordert ihn auf, seinen Platz zu verlassen und ihm zu folgen. Jesus führt den Zöllner in ein anderes Haus. Man höre und staune: Nach dem Matthäusevangelium gehört dieses Haus in Kapharnaum Jesus selbst (vgl. Mt 4,13). Dort gibt er dem Zöllner einen neuen Platz. Plötzlich haben wir eine verkehrte Welt. Der Zöllner sitzt am Tisch derer, die er sonst nur ausnützt. Er feiert mit denen, die ihn sonst nie ins Haus einladen würden. Dieser Positionswechsel vom Zolltisch an den Küchentisch Jesu und seiner Jünger bringt alles durcheinander. Kein Wunder, dass es einen Aufschrei gibt: Der Zöllner gehört an seinen Zolltisch. Dort hassen wir ihn. In unseren Häusern hat er nichts zu suchen. Die gleiche Schüssel mit ihm teilen, das wollen wir nicht.

Mit dieser Geschichte, in der Jesus einen Positionswechsel vorexerziert, beschreibt der Evangelist Matthäus seinen Traum von Kirche. Nachfolge heißt für ihn: beweglich bleiben und in fest gefahrene Gewohnheiten Veränderung bringen. Das Haus Jesu ist für ihn eine Einladung, meine eigenen angelernten Verhaltensmuster bewusst zu verlassen und meine Umwelt und die Mitmenschen von einer anderen Seite zu sehen. Und Matthäus ist davon überzeugt: Das macht etwas mit mir. Wenn mein Blick sich ändert, dann ändert sich auch meine Einstellung. Wenn ich einen Menschen von einer anderen Seite anschaue, dann gewinne ich auch eine neue Sicht von ihm.

Das Haus Jesu macht auch etwas mit den Menschen, die kommen. In ihren eigenen Häusern hat jeder seine Stellung, sein Ansehen, seinen guten oder schlechten Ruf. Nimmt er die Einladung ins Haus Jesu an, wird das alles unwichtig. Was zählt ist: Er wird zu einem Gast, der mit Jesus am Tisch sitzt.

Liebe Leser, Sonntag für Sonntag verlassen wir unsere Häuser und kommen ins Haus Jesu. Wir verlassen unsere gewohnte kleine Welt und kommen in einen viel größeren Raum, in dem andere Maßstäbe gelten. Daheim sind wir das Kind, das störrisch ist oder das brav in der Schule lernt. Im Alltag und Berufsleben sind wir der "Herr Doktor" und der "Herr Lehrer" oder der "Faulenzer, der keine Arbeit hat und auch nicht arbeiten will". In der Öffentlichkeit sind wir der, "der es zu etwas gebracht hat" oder der ewige Looser. Hier im Haus Jesu werden diese festgerammten Positionen aus den Angeln gehoben. Hier sind wir Gäste am Tisch Jesu. Schauen wir uns auch so an?

Fürbitten

Herr, unser Gott, jeder von uns steht an seinem Platz und sieht die Welt und die Menschen unter einem anderen Blickwinkel.

– Wir beten für alle, die feste Positionen im Kopf haben und keinen Millimeter davon abweichen wollen …

V: Christus, höre uns.

A: Christus, erhöre uns.

– Wir beten für alle, die auf einen Fehler festgenagelt werden und deshalb keine Chance auf Anerkennung oder Veränderung mehr haben …

– Wir beten für alle Familien, die aus beruflichen Gründen umziehen müssen und dauernd herausgefordert sind, sich neu orientieren zu müssen …

– Wir beten für alle Fremden, die aus anderen Kulturen zu uns kommen und sich schwer tun, in unserem Denken und Gesellschaftssystem Fuß zu fassen …

– Wir beten für alle Kirchenmänner und -frauen, die sich bewusst in die Situation anderer Menschen hineindenken und sie zu verstehen versuchen …


Pfarrer Stefan Mai

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