Die volle Wahrheit

Predigt zum Pfingstmontag 2002

Nicht erst seit der berühmten Pilatusfrage "Was ist Wahrheit?" ist die Wahrheitsfrage in unserer Kirche ein heiß diskutiertes Thema. Immer wieder wird sie aufgeworfen: wenn es um das Verhältnis zu anderen Religionen geht und z. B. ein Willigis Jäger in den Verdacht kommt, christliche Wahrheiten zugunsten buddhistischer Vorstellungen über Bord zu werfen. Die Wahrheitsfrage wird aufgeworfen, wenn ethische Fragen diskutiert werden, wenn es um Aussagen von Theologen geht, die nicht auf der Linie liegen.

Die verschiedenen Lager tun oft so, als wüssten sie ganz genau, was die Wahrheit ist, die es zu verteidigen und der es zum Recht zu verhelfen gilt.

Erstaunt lese ich da im heutigen Abschnitt aus dem Johannesevangelium: "Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die volle Wahrheit führen" (Joh 15,12f.). Das heißt doch: Wahrheit ist kein fertiges Paket, das es einfach treu weiterzugeben gilt. Wahrheit nach dem Johannesevangelium ist etwas, was sich immer neu entfaltet. Und es ist sogar ein Zeichen dafür, dass der heilige Geist am Wirken ist, wenn die Wahrheit von morgen größer und weiter entwickelt ist, als die Wahrheit von heute. Und der heilige Geist wirkt dadurch, dass er mich durch Lebensumstände und Erfahrungen meines Lebens zu tieferen Einsichten führt.

In ganz einfachen Worten hat das Papst Johannes XXIII zehn Tage vor seinem Tod ausgedrückt. Vor Mitarbeitern sagte er: "Die heutige Situation, die Herausforderung der letzten fünfzig Jahre und ein tieferes Glaubensverständnis haben uns mit neuen Realitäten konfrontiert … Nicht das Evangelium ist es, das sich verändert; nein, wir sind es, die gerade anfangen, es besser zu verstehen. Wer ein recht langes Leben gehabt hat …, wer wie ich 20 Jahre im Orient und 8 in Frankreich verbracht hat und auf diese Weise verschiedene Kulturen miteinander vergleichen konnte, der weiß, dass der Augenblick gekommen ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen, die von ihnen gebotenen Möglichkeiten zu ergreifen und in die Zukunft zu blicken."

Zitiert nach: L. Kaufmann/N. Klein, Johannes XXIII. Prophetie im Vermächtnis, Fribourg 1990, 24f.


Pfarrer Stefan Mai

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