Lächeln trotz Schramme im Gesicht

Maiandacht für die Oberschlesier 11.05.2002

Keiner weiß so recht, wo die Schramme der Mutter Gottes in der unterfränkischen Wallfahrtskirche von Retzbach herkommt. Die fromme Legende dürfte kaum einen historischen Haftpunkt haben. Sie erzählt, dass die Ritter von Thüngen einen verwundeten Hasen jagten. Sie spürten schließlich das verwundete Tier in einem Erdloch auf, begannen zu graben und fanden ein steinernes Madonnenbild. Das Gesicht der Madonna wurde beim Ausgraben beschädigt und behielt eine Schramme zurück. Der wunderbare Fund gab den Anstoß zum Bau einer Kapelle, und schon bald entwickelte sich die Wallfahrt.

Dieser Schramme auf der rechten Gesichtshälfte des Gnadenbildes ist für mich ein Symbol dafür, dass jeder Mensch früher oder später seine Schramme, seinen Riss abbekommt. Das Leben hat dafür viele Namen bereit. Schrammen und Risse gehen an einem nicht spurlos vorüber und prägen unsere Gesichtsausdrücke mit.

Obwohl die Schramme das Gesicht des Gnadenbildes von Retzbach zeichnet, verliert dieses Gesicht für mich nichts an Faszination. Im Gegenteil. Es gewinnt für mich noch an Tiefe. Trotz des Risses, trotz der Schramme dieses Lächeln, dieses Lachgrübchen am Kinn! Es ist kein kirrendes Gelächter, kein lauthalses, kein gedankenloses Geschäker. Es ist ein verstehendes und mitfühlendes Lächeln. Es stellt einen Menschen dar, der trotz Schramme noch Zuversicht ausstrahlt, der dennoch vom Leben noch etwas erwartet. Die Augen dieses Gesichtes fallen nicht vor totaler Traurigkeit zu Boden, sondern schauen nach vorne, als sähen sie schon etwas Neues kommen.


Liebe Leser! Wenn ich meine Risse im Leben abbekomme, ich glaube, mir werden Menschen mit einem sanften verstehenden Lächeln ein größere Hilfe sein, als Menschen, die in Todtraurigkeit mit mir versinken. Ich glaube, es tut besser, einen Menschen neben sich zu haben, der trotz allem Schweren auch einmal verstehend lächeln kann, als einen, der ein Spiegelbild meiner eigenen Traurigkeit ist.

Wenn ich meine Schrammen im Leben abbekomme, dann hoffe ich im Blick auf dieses Gnadenbild, dass ich mich selbst nicht im Schweren vergrabe und dauernd über das harte Schicksal grüble, sondern neu nach vorn schauen kann. Ich hoffe, dass dann nicht Leere, Enttäuschung und Verhärmung meine Gesichtszüge prägen, sondern das natürliche Lächeln wieder sein Platzrecht findet.



Als der bekannte ostdeutsche Startenor Peter Schreier nach seinem Lieblingskomponisten gefragt wurde, nannte er Wolfgang Amadeus Mozart. Der Interviewer fragte nach dem Grund. Schreier gab zur Antwort: Seine Musik ist ein Ausdruck heiterer Traurigkeit.


Pfarrer Stefan Mai

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