Die Kultur der Berührung

Predigt zum Bild Mariä Heimsuchung aus Liusa (Lk 1,39-45) zur Eröffnung des Marienmonats am 1. Mai 2002

Psychologen sagen uns: Berührungen sind die wesentlichsten und ersten Sinnesempfindungen von uns Menschen. Wir Menschen brauchen schon als Kind das Gestreichelt-werden, das geht unter die Haut. Wohlwollende Berührungen sind Zeichen der Zuwendung, Wertschätzung und echte Lebensvitamine.

Dieses uralte menschliche Bedürfnis nach Hautkontakt ist einfach nicht zu verdrängen, sagt die Psychologin Eva Gesine Baur. Vielmehr registriere sie eine wachsende Sehnsucht nach Berührung. Aber anstatt ganz selbstverständlich durch Streicheln unser Verlangen nach Berührung zuzugeben und zu befriedigen, delegiert der moderne Mensch es häufig. Eva Gesine Baur nennt als Beweis dafür: Massagen haben in den letzten zehn Jahren in der westlichen Welt einen sensationellen Boom erlebt. Der Grund: Je anonymer das Leben im Zeitalter von zunehmender Technisierung wird, desto mehr vermissen Menschen den alltäglichen menschlichen Brückenschlag. Und das lässt sich beobachten: Wenn etwas, was eigentlich zur Natur des Menschen dazu gehört, verloren geht, holt man es sich auf künstlichem Weg wieder ins Leben herein. Für diese These sprechen neben dem Massageboom die Streichelzoos für Kinder, über die man den natürlichen Bezug zum Tier wieder einholen will.

Ja, wir leben schon in einer seltsam widersprüchlichen Zeit. In einer einerseits übersexualisierten Zeit ist in der Kunst der Berührung eine seltsame Unsicherheit eingetreten, oft sogar Angst und Ohnmacht, Berührung zu geben und zu empfangen.

Auf diesem Hintergrund hat mich ein Berührungsbild sehr berührt. Ein spanischer Maler hat es um 1200 für die Kirche in Liusa gemalt. Es stellt die Begegnung von Maria und Elisabeth dar. Da fallen sich zwei Frauen um den Hals. Ihre Gesichter und Körper berühren sich. Für mich ist dieses Bild nicht nur eine Darstellung des Evangeliums von Marias Besuch bei Elisabeth sondern zugleich ein Bild von einer Kultur der Berührung.

Zwei Menschen gehen aufeinander zu, berühren sich. Brust an Brust, Gesicht an Gesicht. Zwei Menschen sind in der Berührung der Gesichter fast ein Auge, haben den Blick füreinander, für das, was der andere braucht.

Einer ist für den anderen Stütze und Halt. Halt geben und zugleich gehalten werden, das ist wohl das Geheimnis einer gelungenen Beziehung. Besonders auffallend auf dem Bild von Liusa ist für mich die Farbe der Ärmel. Während Maria ein rotes Obergewand trägt, gibt der Maler ihrem Untergewand und den Ärmeln die Farbe blau, die Farbe des Obergewandes von Elisabeth. Und Elisabeth umarmt Maria mit roten Ärmeln, der Farbe Marias. Ob der Maler dadurch nicht das Geheimnis einer gelungenen und wohltuenden Berührung ins Bild setzt? Ob er dadurch nicht ausdrücken wollte. Echte Berührung geschieht dort, wo Menschen sich nicht einfach etwas holen wollen, sondern sich auf den anderen einstellen und sich von dessen Wohlbefinden leiten lassen.



Wo so etwas geschieht, da wird der Mensch in seinem Innersten angerührt, da lebt etwas in ihm auf, was die Bibel mit dem freudigen Hüpfen des Kindes im Schoß von Elisabeth zum Ausdruck bringt. Wo solche Berührung geschieht, da erfahren Menschen nicht nur Geborgenheit, Freude und menschliches Glück, da – meine ich – spüren sie auch heute noch etwas von Gott.


Pfarrer Stefan Mai

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