Mit den Füßen im Grab, mit dem Gesicht im Himmel
Osternacht 2002 – Predigtreihe "Gesichter" 10
Einleitung
Die jüdische Schriftstellerin Else Lasker-Schüler gab einmal auf die Frage: "Was ist denn der Mensch?" folgende Antwort: "Der Mensch, das sonderbare Wesen: mit den Füßen im Schlamm, mit dem Kopf in den Sternen."
Da wird etwas Typisches für die menschliche Existenz getroffen: Auf der einen Seite trägt er die bleierne Schwere der Erde in sich – und sehnt sich zugleich nach der Leichtigkeit des Himmels. Die Osternacht spitzt diese Polarität noch einmal zu: Jeder von uns sieht seinen eigenen Tod vor sich – und hofft, dass das nicht das Ende ist.
Zu den Lesungen
2. Lesung: Ex 14,15-15,1
In der Geschichte versank das Volk Israel oft in Schlamm und Morast. Es schien, keinen Ausweg mehr zu geben. Was in solchen Situationen den Juden die Kraft gab, nicht aufzugeben und gegen alle Hoffnung zu hoffen, war die uralte Geschichte vom Auszug aus Ägypten. Großartig hat das der Fernsehfilm "Holocaust" in Bilder gefasst: Die SS stürmt die letzten Häuser im Warschauer Getto; während die letzten wehrfähigen Juden sich verzweifelt mit Gewehrschüssen verteidigen, sitzt ein alter Rabbi im Hintergrund und liest am Pesachabend die Geschichte von der wunderbaren Errettung am Schilfmeer …
Lesung aus dem Hohen Lied 2,13-17
In der Leseordnung für das jüdische Pesachfest, das meist in der Nähe unseres Osterfestes gefeiert wird, werden die Texte des Hohenliedes gelesen. Es geht darin um Liebesgesänge zwischen Mann und Frau. Schon im Judentum wird diese Beziehung auf Gott und sein Volk gedeutet. Wer den anderen liebt, der setzt sich für ihn ein, der steht für ihn ein; das ist die uralte menschliche Sehnsucht: Auch Gott setzt sich für mich und sein Volk ein wie ein Liebender …
diese menschliche Erfahrung wird zum Bild der Hoffnung: dass der Mensch in der Begegnung mit Gott Ähnliches erfährt.
13 Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, so komm doch! 14 Meine Taube im Felsennest, versteckt an der Steilwand,
dein Gesicht laß mich sehen, deine Stimme hören!
Denn süß ist deine Stimme, lieblich dein Gesicht.
16 Der Geliebte ist mein, und ich bin sein;
er weidet in den Lilien.
17 Wenn der Tag verweht und die Schatten wachsen,
komm du, mein Geliebter, der Gazelle gleich,
dem jungen Hirsch auf den Balsambergen.
4. Lesung: Jes 54,4-15
In jeder Liebesbeziehung gibt es Krisen. Da gibt es Zorn, Wut, da gibt es Überlegungen: Soll ich nicht lieber alles hinwerfen und abhauen? Auch in der Gottesbeziehung gibt es diese Krisen. Im Exil in Babylon fühlte sich das Volk Israel wie von Gott verlassen. Der Prophet Jesaja versucht, neu um Vertrauen auf Gott zu werben. Er sagt: Ihr seid doch die Jugendliebe Gottes. Fragt euch selbst: "Kann man denn die Frau der Jugendliebe verschmähen?"
Predigt
Ich bin mir sicher: Würde ein Reporter nach dem Gottesdienst draußen vor der Kirchentür stehen und den Kirchgängern die Frage stellen: Was bedeutet für Sie Ostern? oder: Warum feiern Sie Ostern?, die meisten würden antworten: Jesus wurde von Toten auferweckt.
Und da bin ich mir genauso sicher: Der Apostel Paulus würde auf die gleiche Frage ganz anders antworten: Ostern bedeutet: Du als Christ bist mit Jesus auferweckt. Deswegen erzählt Paulus auch keine Geschichten von Ostern, vom leeren Grab oder vom Engel, der den Frauen die gute Nachricht sagt. Paulus kreist immer wieder um das eine Thema: Was bedeutet Auferweckung Jesu für uns? Und Paulus geht so weit, dass er behauptet: Hätte die Auferweckung Jesu keine Folgen für uns, dann wäre unser ganzer Glaube sinnlos und nichtig. In der Osternachtslesung formuliert das Paulus so: "Wir wurden mit Christus begraben durch den Taufe auf den Tod, damit wir – wie Christus auferweckt wurde – auch in dieser neuen Wirklichkeit leben" (nach Röm 6,4).
Das klingt abgehoben. Aber schon z.Zt. des Paulus war das Taufritual so angelegt, dass diese theologische Behauptung durch einen Ritus erlebbar gemacht wurde. Die Erwachsenen stiegen in ein Wasserbecken hinab und wurden längere Zeit untergetaucht. Symbolisch wurden sie in die Nähe einer Todeserfahrung gebracht – und durften dann beim Auftauchen im Aufatmen neues Leben spüren. Der Priester empfing den Täufling auf der anderen Seite des Beckens mit einem neuen, weißen Gewand, das ihm umgelegt wurde. Sichtbar und spürbar durfte der Täufling erleben: Jetzt bist du wie neu geboren.
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In seinem Auferstehungsbild vom Rosenberger Altar versucht der schwäbische Malerpfarrer Sieger Köder diese theologische Gedanken ins Bild umzusetzen.
Das Bild ist zweigeteilt: in einen roten Himmel und eine braunschwarze Erde. Der Himmel ist dargestellt als das himmlische Jerusalem mit vielen Toren. Die Erde ist ein Friedhof. Die menschliche Gestalt steckt mit ihren Füßen in einem Grab und mit dem Gesicht im Himmel. Die Hand des Menschen stützt sich erschöpft auf den Grabrand. Seine Beine hängen dick und schwer in das Grabloch. Er trägt die Gewänder eines Clowns. Das Kleid ist geflickt und zerschlissen. Als Zeichen für die Wunden des Lebens und so manche Flickschusterei, mit der er Unangenehmes zu verdecken versucht hat. Aber der müde Clown ist nur die eine Seite dieses Menschen. Die Maske hat er schon abgelegt. Er streift das Narrengewand ab und schaut mit nacktem Oberkörper in den Himmel. Die Pilgermuschel auf seiner Brust, direkt im Übergangsbereich von Erde und Himmel, deutet es an: Es ist ein langer Weg bis dorthin. Es gehört viel Mut dazu, das wahre Gesicht zu zeigen, meine Wehrlosigkeit zuzugeben: dass ich nicht alles in der Hand habe, dass ich oft ein armer Tropf bin.
Und vielleicht geht das auch nur, wenn ich daran glauben kann: Da schaut mich einer an, wie ich wirklich bin – und er nützt meine Wehrlosigkeit nicht aus, er lacht nicht über meine Schwächen, sondern nimmt mich an.
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Der Mensch, das sonderbare Wesen: mit den Füßen im Grab, mit dem Kopf im Himmel. Vermutlich werden wir trotz Osterfest-Feier das bleierne Erdengefühl in unseren Knochen nie los. Aber vielleicht heißt "in der neuen Wirklichkeit leben", sich davon nicht nach unten ziehen lassen, sondern sich von den vielleicht wenigen Momenten im Leben aufrichten lassen, wo ich das gespürt habe: Ich bin etwas wert. Ich bin geachtet. Mich schaut einer gern an. Ich brauche mich nicht verstellen. Mir bleibt der Mund vor Staunen offen.
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