In Schmerzensgesichter schauen

Predigt zum Karfreitag 2002 – Predigtreihe "Gesichter" 9

Gemeindegesang: O, Haupt voll Blut und Wunden (GL 179,1-3)

Paul Gerhardt lädt uns mit seinem Lied "O, Haupt voll Blut und Wunden" ein, in ein Schmerzensgesicht zu schauen. Er erspart uns nichts. Er beschreibt, wie das ehemals schöne Gesicht entstellt ist. Die Wangen bleich, die Augen von den Schlägen eingeschwollen, das Gesicht blutverschmiert und durch Schrammen verunstaltet, die Lippen leichenblass.

Für passionierte Fernsehkonsumenten wirken solche Schilderungen allerdings harmlos: Gegenüber dem, was da tagtäglich auf Bildschirmen geboten wird – zertrümmerte Schädel, weggerissene Beine, spritzendes Blut, schreiende Menschen, offene Wunden – ist das "Haupt voll Blut und Wunden" gar nichts.

Aber wehe, wenn in meiner unmittelbaren Umgebung Menschen durch Krebs abmagern, Gesichter durch Unfälle entstellt oder durch dauernde Schmerzen verzerrt werden. Wehe wenn Menschen, die ich gut kenne, in Depression fallen, die Strahlkraft ihrer Augen verlischt, die Gesichter müde und teilnahmslos werden – dann erleben wir, wie hart es ist, in Schmerzensgesichter zu schauen. Dann wissen wir, was es heißt, diesen Anblick auszuhalten. Und wie leicht man versucht ist, diesem Anblick aus dem Weg zu gehen.

Und wie schnell hat man dann auch die entsprechenden Argumente zur Hand: Man will den Kranken schonen, ihn nicht auf seinen schlimmen Zustand ansprechen. Wie muss das auf den Kranken wirken, wenn er in seinem Verfall angeschaut wird. Das ist sicher unangenehm.

Aber von der Seite der Betroffenen sieht das meistens anders aus:

Eine 35-jährige Krankenschwester, die plötzlich krebskrank wurde und nach einigen Chemotherapien auf den Tod zuging, verbrachte die letzten Wochen ihres Lebens auf der gleichen Station, auf der sie vorher lange gearbeitet hatte. Sie kannte alle Schwestern und Ärzte, musste aber spüren, dass im letzten Stadium ihres Leidens ihre Arbeitskolleginnen und -kollegen immer seltener die Tür zu ihrem Zimmer aufmachten. Da nahm sie noch einmal alle Kraft zusammen und schrieb ihnen einen Brief:

Seit 10 Jahren bin ich mit euch zusammen auf dieser Station. Wie viele Stunden haben wir zusammen gearbeitet, miteinander Spannungen ausgehalten und gelacht. Wir kennen uns nicht nur bei Namen, sondern wissen auch, was jeden bewegt, welche Sorgen er hat. Eigentlich habe ich mich bei euch immer wohl gefühlt.

Aber um so härter trifft es mich, dass ich jetzt spüren muss: Ich gehöre nicht mehr zu euch. Je mehr ich auf den Tod zugehe, desto mehr reißt ihr vor mir aus. Als Krankenschwester weiß ich, es ist viel leichter, mit Spritzen und Tabletten zu hantieren, als ein paar Worte für Schwerkranke zu finden. Aber ich erwarte von euch doch gar keinen Trost. Auch Mitleid will ich nicht. Ihr müsst mich nicht aufmuntern. Ich erwarte wirklich nichts Unmögliches von euch. Ich bitte euch nur: Macht manchmal die Tür auf, kommt herein, schaut mich an und lasst mich spüren, dass ich noch zu euch gehöre.

Wenn ich heute bewusst nach vorne trete und in das "Haupt voll Blut und Wunden" schaue, dann will ich damit sagen: Du und alle, die Schmerzensgesichter tragen, zeigt mir etwas, was ich noch zu lernen habe. Ihr seid mir voraus.



Wenn ich die Kraft habe, in diese Schmerzensgesichter zu schauen, übe ich etwas ein, was ich noch lernen muss: die Wehrlosigkeit und die Hilflosigkeit zu akzeptieren. Und hoffentlich gibt es auch dann Menschen, die nicht wegschauen, sondern mich voller Respekt anschauen, weil sie wissen: Ich bin ihnen in der Schule des Lebens voraus.


Pfarrer Stefan Mai

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