Hat die Masse ein Gesicht?

Palmsonntag 2002 – Predigtreihe "Gesichter" 7

Einleitung zur Palmprozession

"Volksmenge", "Masse" – da haben wir eine große Ansammlung von Menschen vor Augen. Genau besehen: Hunderte und Tausende von Menschen mit individuellen Gesichtern, persönlichen Charakterstrukturen und Nervenkostümen, mit eigenem Willen, eigenen Gedanken und Weltanschauungen. Eigentlich dürfte es bei so viel Unterschiedlichkeit nie zu einem wirklichen Konsens kommen.

Doch wir wissen: Wenn eine Menschenmasse zusammenkommt, dann unterliegt sie den Gesetzen der Massenpsychologie. Da gelten nun einmal andere Kommunikationsgesetze und andere Verhaltensregeln als in Kleingruppen. Da verzichten Menschen auf das ganz Persönliche, da werden vorhandene Differenzen schnell vergessen, ja da legen sich viele ein anderes Gesicht zu und zeigen ein anderes Verhalten.

Im Evangelium vom Einzug Jesu in Jerusalem und in der Passionsgeschichte begegnen uns heute große Menschengruppen und Volksmengen. Auffällig ist, dass in diesen Erzählungen die Volksmenge nicht mit Hunderten von Stimmen spricht, sondern mit einer einzigen, die sich aber von Ton und Charakter her sehr schnell ändern kann. Diese Texte, die wir heute am Palmsonntag hören, und die Gesichtsskulpturen, die uns in der Fastenzeit begleitet haben und uns heute als "Masse" in unserer Kirche gegenüberstehen, stellen uns die Frage: Hat die "Masse" ein Gesicht?



Einleitung zur ersten Lesung (Jes 50,4-7)

Dieses kantige, strenge, aber innerlich zugleich gefestigte und weitblickende Gesicht scheint mir etwas von der Haltung ins Bild zu setzen, die die geheimnisvolle Gestalt des Gottesknechtes im Jesaia-Buch ausmacht. Von ihm hören wir heute in der Lesung.

Es ist nicht leicht, abseits von der Masse zu stehen, sich verpflichtet zu fühlen, im Namen Gottes ihr eine Botschaft auszurichten, und dafür Hohn und Spott zu erben.

Es ist nur schwer zu ertragen, wenn ich andere aufrichten soll und diese mir ihre feindselige Haltung mit Misshandlungen, Schlägen, Backenstreichen und Speichelspucken zurückzahlen.

Es gehört viel innere Widerstands- und Durchhaltekraft dazu, wenn alle gegen mich sind, meine Überzeugung durchzuhalten, mein Gesicht "hart wie Kiesel" zu machen, wie es vom Gottesknecht heißt.

Die ersten Christen sahen in diesem Gottesknecht eine Hintergrundfolie für die Figur Jesu, die in der Passionsgeschichte feindlichen Gruppen und der Masse gegenübersteht.



Die Passionsgeschichte nach Matthäus

1. Teil der Passionsgeschichte: Mt 26,30-75

Gruppen verhalten sich oft fies. Oft sind sie selbst zu feige, Hand anzulegen, wenn es brenzlig wird. Die schmutzigen Geschäfte sollen dann andere für sie erledigen. Dafür besorgt man sich Handlanger. Für das, was man selbst nicht anpacken möchte, sucht man sich andere, die das erledigen sollen. Dann steht man hinterher als Saubermann da.

Und den Helfershelfer lässt man dann fallen wie eine heiße Kartoffel. Dann heißt es plötzlich – wie gegenüber Judas, der sich für das schmutzige Geschäft hergab –: "Das ist deine Sache! Was geht das uns an!"

2. Teil der Passionsgeschichte: Mt 27,1–19

In der Geschichte der Menschheit war es für Herrscher und tonangebende Gruppen immer eine Versuchung, die Menge für eigene Interessen einzuspannen, das Volk zu verführen und gegen Minderheiten oder einzelne aufzuhetzen. Man möchte die Stimme des Volkes für sich gewinnen, um die eigene Position und die eigenen Interessen zu stärken.

Drastisch wird das in der Passionsgeschichte anhand der Gruppe der Hohenpriester und Ältesten vor Augen geführt. Von ihnen heißt es: "Inzwischen überredeten die Hohenpriester und Ältesten die Menge, die Freilassung des Barnabas zu fordern, Jesus aber preiszugeben."

3. Teil der Passionsgeschichte: Mt 27,20–61

Demagogen verstehen es, das Volk auf die eigene Seite zu ziehen und für sich einzuspannen. Sie wissen: Die Masse ist anfällig, und schnell beeinflussbar, wenn sie Vorteile erahnt, wenn sie vom Glanz, vom Einfluss oder vom Geld der führenden Kreise etwas abbekommt. Stimmungsmacher und Volksverführer wissen aber auch: Das Volk ist wankelmütig, die Stimmung der Masse kann schnell gegen sie umschlagen, Gunst kann schnell in Rache umkippen. Deshalb verhalten sich Demagogen, wie in der Passionsgeschichte vor Augen geführt wird, häufig nach dem Motto: Das Volk stillhalten, gefährliche Klippen umschiffen und Brenzliges schlau vertuschen …

4. Teil der Passionsgeschichte: Mt 27,62–66


Pfarrer Stefan Mai

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