Risse im Gesicht
Predigtreihe Gesichter 4
Einleitung
Unter unseren neun Gesichtsskulpturen sind verschiedene Frauenköpfe zu finden. Zwei von ihnen stehen heute im Altarraum. Beide aus einem Holzstück herausgehauen und nachträglich gekalkt. Beide haben rote Lippen, beide sind junge Gesichter. Wer ganz hinten steht, wird kaum einen großen Unterschied erkennen können. Doch wer näher herantritt, sieht es: Das eine Gesicht ist glatt und faltenlos, das andere ist gekennzeichnet von tiefen Rissen. Es würde mich interessieren, welches der beiden Gesichter macht auf die Betrachter einen größeren Eindruck?
Predigt
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Die Konkurrenz ist groß. Da darf man nicht schlafen, sagt eine Frau – nicht mehr ganz jung –, als sie auf ihre glatte Haut und frische Gesichtsfarbe angesprochen wird. Das schöne, glatte Frauengesicht ist einfach ein Schönheitsideal.
Und wir werden ja auch ständig mit den entsprechenden Werbeslogans überflutet: Damit Ihr Gesicht länger jung bleibt... Den Falten keine Chance. Creme mit Tiefenwirkung.
Ja die jungen hübschen Gesichter, die haben Hochkonjunktur, die ziehen noch. Falten mögen sich vielleicht verschieben lassen, aber man kann machen, was man will: Mit der Zeit ziehen dann doch Furchen durchs Gesicht. Das Leben hinterlässt seine Spuren. Für viele ist es nicht leicht, dem Älterwerden ins Gesicht zu schauen. Es ist hart, im Spiegel ständig an Enttäuschungen oder Schweres erinnert zu werden.
Mit diesem Phänomen setzt sich der Dichter Richard Dove auf ungewöhnliche Weise auseinander. Er erzählt von einer Buddhastatue, die er bei einer Reise ersteigert hat.
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Ein Riss durch den Buddha
Erleuchtetes Grün, ein Reisfeld, dahinter ein Berg.
Die Händlerin überquerte die Straße des Leidens
und fing an zu feilschen: sie brauchte sechs Dollar und bekam nur drei.
Jetzt nenn ich diese Buddha Statue mein eigen.
Er ist fast so breit wie hoch, den weit vorgewölbten Bauch
bedeckt eine offiziöse Kette. Zwei Zähne stehen vor im Mund,
der ganz und gar unklassizistisch lächelt.
Die Augen sind zu, die Augenbrauen hochgezogen:
die meisten Buddhas sind kühl wie Mondlicht,
doch dieser versengt den Betrachter mit sonnigem Übermaß.
Du findest ihn kitschig, und hast ihn einmal -
die Stärke des Holzes überschätzend - als Hammer verwendet;
es galt, auf die Schnelle ein Mückennetz zu befestigen.
Andere Buddhas haben schlimmeres ausgehalten …
Mein Buddha hat bloß einen Riss, von den Füßen hinauf bis zur Brust -
zwar relativ breit, doch das wirkt wie ein punkiges Accessoire.
Ich schäme mich jedes Mal für meine Zerrissenheit.
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Seiner eigenen Risse schämt er sich, der 48-jährige Dichter. Aber als er den Riss in seinem Buddha sieht, findet er plötzlich: So ein Riss hat etwas an sich. Das gibt der Figur erst die eigentliche Note. Und auf einmal fragt er sich: Warum schäme ich mich eigentlich meiner eigenen Risse, die mit den Jahren mehr und immer tiefer werden? Warum lerne ich nicht von meiner Buddhastatue? Ich brauche nicht als Schönling durchs Leben zu gehen, als Vorzeigefigürchen. Ich brauche meine Risse nicht zu verdecken. Zeigen nicht meine Risse, auch wenn sie schmerzlich waren, dass etwas Entscheidendes in meinem Leben aufgebrochen ist? Risse zeugen von Reife, von durchstandenen Erfahrungen. Vielleicht zeigen erst die Risse meine innere Glut? |
Pfarrer Stefan Mai
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