Vera icon - Das wahre Gesicht Jesu

Predigt zum Veronika-Bild von Willi Grimm (Predigtreihe Gesichter)

Einleitung

Die heilige Veronika ist eine Legendengestalt. An keiner Stelle spricht das neue Testament von ihr. Und doch wurde sie wie auch der dreimalige Fall Jesu unters Kreuz, von dem ebenfalls in der Bibel nie die Rede ist, unter die Stationen des Kreuzweges aufgenommen. In der sechsten Station hat man in ihr dem spontanen Handeln aus Mitleid heraus ein Denkmal gesetzt: Veronika reicht Jesus das Schweißtuch. Die Veronikalegende erzählt:

Legende

Als Jesus durch die Gassen Jerusalems hinausgeführt wurde nach Golgotha, da umsäumten die Einwohner der Stadt seinen Leidensweg. Von der furchtbaren Last des Kreuzes fast zu Boden gedrückt, brach Jesus auf der Straße zusammen. Schweiß und Blut rannen in schweren Tropfen über sein Gesicht. Als niemand unter den Zuschauern den Mut fand, ihm aufzuhelfen und zu stützen, stürmte eine Frau mit Namen Veronika aus der Menge. Voll Mitleid beugte sie sich nieder zu dem Gefallenen, ohne auf das Murren des Pöbels zu achten. Jesus nahm das Tuch drückte es fest an sein schweiß- und blutüberronnenes Gesicht und gab es Veronika mit einem Lächeln zurück. Als nun Veronika das Tuch auseinander faltete, da trug es als Abbild die Gesichtszüge Jesu. Die Legende erzählt weiter:

In Rom lag Kaiser Tiberius an einer schweren Krankheit darnieder. Da wurde ihm erzählt, dass in Jerusalem ein Arzt lebe, der durch sein bloßes Wort heilen könne. So schickte er seinen Diener Volusianus nach Jerusalem zu Pontius Pilatus, um den Wunderarzt herbeizuholen. Als Volusianus die Botschaft des Kaisers überbrachte, da erschrak Pilatus sehr, denn er ahnte, dass dieser Arzt der gekreuzigte Jesus von Nazareth war, und bat deshalb um eine Bedenkzeit. Währenddessen begegnete Volusianus in Jerusalem Veronika. Die fragte er, wo er diesen vielgepriesenen Arzt finden könne. Da sprach Veronika: Das war Jesus, den haben die Juden voller Hass in die Hände des Landpflegers gegeben und der hat ihn ans Kreuz schlagen lassen. Über diese Nachricht war der Bote sehr bestürzt. Da erzählte ihm Veronika, wie Jesus sein Angesicht in ihr Schweißtuch drückte. "Das Bild", so versicherte sie , "ist so kräftig, dass derjenige, der es anschaut, wieder gesund würde." Da bot ihr Volusianus Gold und Silber für das Tuch. Doch Veronika erklärte ihm, dass sie dieses Bild für alle Schätze der Welt nicht eintauschen möchte und es seine Kraft nur erweisen könne, wenn man es mit reinem und gläubigem Herzen anschaue ...

Predigt zum Veronikabild von Willi Grimm

Wir würden es gerne wissen, wie Jesus ausgeschaut hat, wie groß er war, welche Gesichtszüge, Gesichtsform und Augen er hatte. Wir würden gerne wissen, ob er einen Bart trug und ob seine Haare lockig über die Schultern gefallen sind. Darüber jedoch Fehlanzeige. Denn von Jesus haben wir kein Foto, kein zeitgenössische Bild, keine zu Lebzeiten in Stein gehauene Skulptur, keine Beschreibung des Aussehens.

Was wir von und über ihn wissen, wissen wir aus dem Neuen Testament. Und das kann doch kein Zufall sein, dass das Neue Testament gleich vier Evangelien enthält, die von Jesus, seinen Worten und Wirken erzählen. Das ist doch kein Zufall, dass zudem noch jeder Evangelist auf seine besondere Weise Jesus schildert und von ihm erzählt.

Der Evangelist Markus zeichnet von Jesus das Bild eines Lehrers, der seine Schüler nicht auf eine Karrierelaufbahn einschießen, sondern zu einem Leben in Solidarität mit anderen bewegen will, auch wenn dies viel Kraft erfordert und sich nicht auszahlt. Matthäus schildert Jesus als den neuen Mose, der eine Brücke schlägt vom Judentum hinüber zu den Heiden und fremde Völkern. Lukas malt das Bild des Heilands, des Anwalts der Armen, Schwachen und Ausgegrenzten. Und Johannes schildert in hoher Theologie, wie das Wort Gottes Fleisch annimmt und als verborgene Herrlichkeit Gottes bei den Menschen wohnt.

Nein! Es ist kein Zufall, dass das Neue Testament verschiedene Bilder von Jesus malt. Dies drückt das Bewusstsein der jungen Christen aus, dass kein einzelnes Bild Jesus in seiner Bedeutung für Menschen umfassen kann und es deswegen mehrere Annäherungsversuche an seine Person braucht.



Diese Einsicht hat in der christlichen Kunst einen Prozess ausgelöst. Im Lauf der Jahrhunderte wurde und wird immer neu in verschiedenen Stilrichtungen, in immer neuen Ansätzen in der bildenden Kunst um das "wahre Gesicht" Jesu gerungen. Und dennoch bleibt die Frage: Was ist das wahre Gesicht Jesu, die vera icon?

Der Bildhauer Willi Grimm versucht darauf mit seinem Veronika-Bild eine Antwort zu geben. Veronika zeigt dem Betrachter das Schweißtuch mit dem Gesicht Jesu. Sie selbst tritt dabei völlig zurück. Ihr persönliches Gesicht wird hinter dem großen Antlitz Jesu ganz klein. Wie durch ein Fenster schaut das Angesicht Jesu aus ihr heraus, oder wie durch ein Fenster lässt sich Veronika ins Herz schauen auf das Gesicht Jesu. Mir scheint der Künstler mit seinem Veronika-Bild die Botschaft zu vermitteln: Unter den unzähligen Jesusbildern trägt für dich das Jesusbild sein wahres Angesicht, das du im Herzen trägst und das du wie Veronika anderen in deinem Leben auch zeigen möchtest. Das wahre Gesicht Jesu sind die Züge von Jesus, die bei dir nachhaltigen Eindruck hinterlassen und sich in dein Herz eingeschrieben haben und wie in der Veronika-Legende heilend sich auf dich und deine Umgebung auswirken.


Pfarrer Stefan Mai

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