Dem Tod ins Gesicht schauen

Predigt zum Aschermittwoch 2002

Im vergangenen Jahr war in der Otto-Schäfer-Bibliothek eine große Ausstellung zum Thema "Totentanz" zu sehen – unter dem Titel: "Du musst nach meiner Pfeife tanzen!" Seit dem Mittelalter ist die Darstellung des Totentanzes ein Mittel, um den Menschen die Vergänglichkeit ihres Lebens vor Augen zu halten.

Auf den Totentanz-Bildern mischt sich der Tod stets ins Leben ein. Da erscheint der Tod meist als Knochen- und Sensenmann. Er klopft an die Tür eines Siechenden. Er führt die Hand des schönen Burgfräuleins beim Tanz. Er holt den Ackermann vom Pflug weg. Er überrascht den Reichen beim Geldzählen. Selbst Kind und Papst verschont er nicht. In einem großen Reigen führt er die Menschen aus allen Ständen und aus allen Lebensaltern tänzerisch aus dem Leben hinaus. Memento mori! Gedenke, Mensch, dass du sterben musst, mahnen diese Darstellungen.


Im Georg-Schäfer-Museum hängt ein Bild, das den gleichen Titel trägt: "Totentanz". Dieses Bild stellt die Begegnung zwischen dem Tod und einer Frau in der Lebensmitte dar. Im ersten Moment scheint es, als würde sich der Tod in einen Maskenball einmischen. Es scheint, als würde er dabei nach der Hand dieser Frau greifen und sie vom prallen Leben in den Tod zerren wollen.

Aber wer das Bild genauer anschaut, merkt schnell: Es ist genau umgekehrt. Die Frau mit den roten Haaren, schon ein wenig beschwipst, lacht den Tod an, reizt ihn förmlich, indem sie die Träger ihres Kleides am Arm hinuntergleiten lässt, und zerrt ihn vom Balkon eines Ballsaales auf die Tanzfläche. Sie zieht ihn von einer dunklen Randecke des Saales hinein in das bunte Leben, wo die Stimmung fast überbordet. Der Totentanz von Slevogt wird so zu einem Lebenstanz.

Wir beginnen heute am Aschermittwoch die Fastenzeit und hören wieder die Worte: "Gedenke, Mensch, du bist Staub, und zum Staub kehrst du wieder zurück!" In unserer Tradition bricht mit dem Aschenritus das pralle Leben ab und die Zeit der "Abtötung", wie sie manchmal genannt wurde, beginnt: Entsagung, Verzicht, Ernst. Auf dem Hintergrund des Bildes von Slevogt geht mir ein vielleicht vergessener Sinn der Fastenzeit auf: Diese Zeit ist keine Zeit der Abtötung, sondern eine Zeit, in der Totes von uns ins Leben gezerrt werden soll. Diese Zeit wäre eine Gelegenheit, darüber nachzudenken, was an Wertvollem aus Unachtsamkeit, falscher Rücksicht, Routine und Zeitmangel aus meinem Leben verschwunden ist.



Ob man "Fastenzeit" nicht auch einmal so sehen könnte: Memento vivere! Denk daran zu leben! Denk an Situationen und Stunden deines Lebens, wo du Leben intensiv gespürt hast! Denk an Tätigkeiten, die dich ausgefüllt haben! Denk an Orte, die ganz wichtig in deinem Leben waren! Und frag’ dich: Ist mir davon Wichtiges verloren gegangen? Wenn ja, vielleicht ist es noch möglich, manches davon wieder ins Leben zurückzuholen.


Pfarrer Stefan Mai

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