Traumgesicht hinter Maske

Predigtreihe "Gesichter" 1 – Faschingsonntag 10. Februar 2002

Einleitung

Liebe Leser! Gesichter – so heißt das Thema der Predigtreihe während der Fastenzeit. Die Masken aus Afrika und Peru und die Gesichtsskulpturen, die uns freundlicherweise Münsterschwarzach und die Bildhauerfamilie Grimm aus Kleinrinderfeld zur Verfügung gestellt haben , und das neue Misereor Hungertuch des afrikanischen Künstlers El Loko mit 36 Gesichtern, das über dem Altar hängt, laden ein, über die Sprache der Gesichter einmal neu nachzudenken. Sie laden ein, uns mit unserem eigenen Gesicht auseinander zu setzen, die Signale, die es sendet, die Spuren, die das Leben darauf geschrieben hat wahrzunehmen. Die Gesichtsskulpturen in unserem Kirchenraum machen mir bewusst, welche Vielfalt von Gesichtern es in unserer Gemeinde gibt und dass vor allem Gesichter Atmosphäre in einem Stadtteil und einer Kirchengemeinde prägen. Sie machen mir deutlich: Begegnung ohne wahres Gesicht läuft ins Leere.

Predigt

Auf dem Maskenball sehen sie sich zum ersten Mal. Wie sie sich bewegt, fasziniert ihn. Sein Auftreten, seine Stimme üben magische Anziehungskraft auf sie aus. Beim Tanz kommen sie sich näher. Harmonisch fließen die Bewegungen ihrer Körper ineinander. Die Sehnsucht und Neugier aneinander wächst. Leicht und unbeschwert schweben sie über den Tanzboden hinweg, reden und lachen viel. Die fremde Stimme wird immer vertrauter. Die zwei jungen Menschen erahnen in ihrem Innern: Das ist mehr als nur romantisches Gefühl, das ist mehr als nur Geplänkel. Aber das Gesicht des anderen sehen sie nicht. Denn es ist hinter der Maske verborgen. Eigentlich wären sie neugierig, welches Gesicht, welche Augen, welche Person sich hinter der Maske verbergen. Aber die beiden vereinbaren, in dieser Nacht nicht die Masken vom Gesicht zu nehmen und sich am Morgen unerkannt zu trennen.

So gingen sie am Morgen auseinander, ohne den Namen des anderen zu kennen, ohne das Bild des Gesichts in der Erinnerung zu tragen. Zeit und Leben flossen weiter. Aber das Traumbild jener Maskennacht kam den beiden oft in Erinnerung. Und jedem erschien dieses Bild als der Höhepunkt eines unerreichbaren, verlorenen Glücks. Was konnte ihnen da noch die eheliche Verbindung bedeuten, die sie später eingingen, lebte doch ein jeder, versponnen ins eigene Idol, teilnahmslos und dumpf an seinem Ehepartner vorbei.



Nach Jahren verstarb die Frau. Eine kalte Nacht folgte dem verregneten Begräbnis. Am Morgen wollte der Witwer den Nachlass der Toten ordnen. Er öffnete die Schublade des Schreibtisches, die seine Frau zu Lebzeiten als strenges Geheimnis hütete. Und er erschrak: Zwischen den Erinnerungsstücken verborgen fand er die Maske jener glücklichen Nacht aus der Jugendzeit. Es wurde ihm schmerzlich bewusst: Ich habe, ohne es zu wissen die zur Frau genommen, der meine verborgene Liebe gehörte. Aber ich habe mein Leben an ein Wunschbild vertan, das ich hinter dieser Maske sehen wollte. Das eigentliche Gesicht haben wir voreinander verborgen.

Diese Geschichte macht sehr nachdenklich. Sie fragt: Tragen wir Menschen während unseres Lebens Masken, hinter der wir unser eigentliches Gesicht verstecken? Den anderen möchten wir zwar ins Gesicht schauen, aber ohne das eigene Gesicht zu zeigen. Manchmal nehmen wir eine unserer Masken ab, aber dann kommt darunter eine neue Maske zum Vorschein.

Die Geschichte macht deutlich: Wo Masken im Spiel sind, kann ich den anderen nur in einer ganz begrenzten Weise durch Sehschlitze wahrnehmen. Wo Masken im Spiel sind, mache ich mir vom anderen mein eigenes Wunschbild zurecht und projiziere es in den anderen hinein. Masken verhindern am Ende wirkliche Nähe und echte Begegnung.

Aber wie schwer ist es, sich dem anderen wirklich ohne Maske zu zeigen. Erschrickt er dann vielleicht vor mir? Geht es mir dann am Ende nicht vielleicht wie den Eheleuten aus der Geschichte: dass ich den anderen mehr fasziniere, wenn ich meine Maske trage, als wenn er mein wirkliches Gesicht ertragen muss? Mein wahres Gesicht mit seiner Wut, seiner Trauer, seiner Langeweile und seiner Lustlosigkeit ... Soll ich es wirklich wagen, meine Maske vor anderen abzunehmen?


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de