Von meinem Standpunkt aus

Predigt zum 2.Sonntag im Jahreskreis(A) am 20.01.2002

"Jeden Augenblick erblicke ich die Erde neben meinem Bett. Sie steht auf dem Tisch: die Erde, eine Kugel, etwa so groß wie mein Kopf, der fast rund ist wie sie, mit dem Kontinent, auf dem mein Haus steht, mit dem Schlafzimmer und dem Bett, in dem ich liege. Und auch bevor ich das Licht lösche, sehe ich noch einmal auf die Erde neben mir, auf der auch das Bett steht, in dem ich liege, damit ich weiß, wo ich bin." Mit diesen Worten begann der Schriftsteller Arnold Stadler seine Dankrede zur Verleihung des Georg Büchner Preises.

Ja, es ist gut, zu wissen, wo mein Ort ist. Es ist gut zu wissen, wo ich zu Hause bin. Dieses Wissen gibt dem Leben ein Fundament und ein Stück Grundsicherheit. Ich werde aus meiner Jerusalemer Studienzeit nie einen Studenten vergessen, der zehn Fremdsprachen fließend sprach, der sich überall verständigen konnte, der aber nirgends richtig zu Hause war. Ich bewunderte ihn wegen seiner enormen Sprachkenntnisse, hätte aber nie diese Kenntnisse gegen meinen fränkischen Dialekt eintauschen mögen, weil dieser für mich ein Zeichen dafür ist, wo ich zu Hause bin.

Es ist aber auch gut zu wissen, wo mein Ort ist und sich klar zu machen: Von diesem Ort aus sehe ich, was sich um mich herum abspielt und ereignet. Von diesem Ort aus beziehe ich meinen Standpunkt zu Menschen und Ereignissen. Von diesem Ort, wo ich zu Hause bin, sehe und beurteile ich ganz subjektiv die Welt.

Die Hauptfigur des heutigen Evangeliums, Johannes der Täufer, hatte seinen Ort gefunden. Sein Ort war nicht sein Geburtsort. Sein Ort war nicht die Priesterfamilie, in die er hineingeboren wurde. Sein Ort war die Wüste. Sein Ort war die Stelle, an der Wüste und Kulturlandschaft sich überschnitt. An diesem Ort, "in Betanien, auf der anderen Seite des Jordan"(Joh 1,27) taufte er. Von hier aus beurteilte er kritisch die gesellschaftliche Entwicklung um ihn herum. Von hier aus bezieht er seinen Standpunkt zu den Tempelpriestern und führenden Schichten Jerusalems.

An diesem Ort sieht er auch Jesus auf sich zukommen. An diesem Ort sieht er den Geist vom Himmel auf Jesus herabkommen. An diesem Ort bezieht er seinen Standpunkt zu Jesus und bezeugt ihn als den Sohn Gottes (Joh 1,34).

Liebe Leser, ob wir das uns immer genug bewusst machen, dass mein Standpunkt, den ich zu einer Person, einer Entwicklung oder einem Ereignis beziehe, immer bedingt ist durch den Ort, auf dem ich selbst stehe. Durch den Platz, der mir in dieser Welt zugewiesen ist. Dieser Platz ist einmalig, es ist mein Platz, den kein anderer einnehmen kann. Kein zweiter Mensch wird genau diesen Blick auf die Ereignisse haben wie ich. Kein zweiter Mensch wird Atmosphäre und Entwicklungen um uns herum so empfinden wie ich, auch mit den Beschränktheiten, die notwendig dazugehören. Kein Mensch wird je genau sehen, was ich sehe. Es ist gut, sich dieses Phänomen einmal ganz bewusst zu machen. Und es wäre gut, sich einmal ganz bewusst zu fragen: Komme ich von meinem Platz her zu einer persönlichen Sicht der Dinge. Beziehe ich dann dazu Standpunkt und stehe ich auch dafür bewusst ein ? Diese Lebenseinstellung nennt das heutige Evangelium "Zeugnis geben".


Pfarrer Stefan Mai

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