In Ruhe alt werden

Predigt zum Tag der Heiligen Familie 2001 (Sir 3,2-6)

Nach dem Abschluss des Studiums 1981 hat sich unser Theologen-Jahrgang, das sind Pfarrer und Pastoralreferenten, darauf geeinigt, alle zwei Jahre miteinander einen Fortbildungskurs zu organisieren. Jedes Mal merken wir, dass wir uns verändert haben: persönliche Lebenssituationen verändern sich, und Interessen verschieben sich.

In diesem Jahr tauchte plötzlich als Hauptgesprächsthema ein Thema auf, das vorher noch nie da war: das Alter. Und die große Frage: Was machen wir, wenn wir alt werden. Für viele stand fest: Was bleibt uns denn anderes übrig, als in Altenheim zu gehen?

Das Thema "Alter" wird in unserer Gesellschaft immer brisanter. Nicht nur wegen der demographischen Entwicklung. Sondern wegen der Wertung des Alters. Jeder möchte eine möglichst hohe Anzahl an Lebensjahren erreichen, aber niemand möchte zu den "Alten" gerechnet werden. Denn als "Alter" stehst du draußen vor den Toren der Gesellschaft. Nur was jung und dynamisch ist, zählt. Nur wer beim rasanten Tempo wirtschaftlicher wie gesellschaftlicher Entwicklungen mithalten kann, bleibt auch gefragt. Eine seltsame Angst vor dem Alter macht sich breit. Aber ob sich nicht auch die Jungen, ewig Dynamischen verrechnen, wenn sie das Alter aus dem Leben in Sonderbezirke verdrängen wollen?

In einer theologischen Zeitschrift las ich diesen ironisch geschriebenen, fast sarkastischen Kommentar zu dieser Entwicklung:

Nun sind sie weg, die Gebrechlichen, die Wackligen und Tapsigen.

Nun sehen wir keine Krückstöcke und Rollstühle mehr.

Wir haben sie umstellt mit Reklametafeln von jungen Körpern, mit Titelbildern von glatten Gesichtern, mit unseren Sport-Boutiquen und Mountainbike-Läden, mit unseren "Immer-jung-bleiben-Büchern".

Nun sind sie weg, die ewigen Krankengeschichten, und die Erzählungen vom Krieg, die Legenden von der guten alten Zeit und die Klagen über die Verrohung der Sitten, die ständigen Widerworte gegen uns und die tauben Ohren für uns.

Nun haben wir sie ausgeschlossen aus der ständigen Sportveranstaltung unseres Lebens, aus unseren Computer-Dörfern und Turbo-Städten, aus unserer Alltagsolympiade.

Nun haben wir sie versteckt hinter den Mauern von Altenheimen, hinter den Wänden von Seniorenhäusern, in Pflegestationen, in Familienalben und auf Friedhöfen.

Nun sind wir frei. Nun können wir in Ruhe alt werden.
(aus: Anzeiger für die Seelsorge 9/1998, 449).



Liebe Leser, das Alte Testament hat einen anderen Ratschlag für den Traum, in Ruhe alt werden zu können. Hier heißt das Lebensrezept: "Wer den Vater ehrt, wird Freude haben an den eigenen Kindern; wer ihn achtet, wird lange leben; und wer seiner Mutter Ehre erweist, der erweist sie dem Herrn" (Sir 3,5f). Das ist so etwas wie ein Vertrag der Generationen. Kinder lernen an meinem Verhalten zu meinen Eltern, wie sie es einmal mir machen werden, wenn ich alt bin. Im Unterschied zur heutigen Lebenseinstellung, die zuerst fragt: Was bringt’s mir, fragt biblische Lebenseinstellung: Was bringt’s uns? Bibel denkt "Leben" immer im Geflecht von menschlichen Beziehungen, nach der Bibel beginnt der Tod mit dem Alleinsein. Ein rechnerisch langes Leben läuft ins Leere, wo menschliche Herzenswärme, wechselseitige Verantwortung und Fürsorge fehlen. Dem kann vorbauen, wer die Weisheit der Alten lernt und umsetzt: "Wer den Vater ehrt … und wer seine Mutter achtet, gleicht einem Menschen, der Schätze sammelt" (Sir 3,3f).


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de