Nur dreimal wackelt die Erde

Predigt zum Stefanustag 2001

Einleitung

In den Weihnachtstagen ist in den biblischen Texten viel davon die Rede, dass die Trennung zwischen Himmel und Erde aufgehoben ist: Aus dem Himmel kommen Engel auf die Erde, Menschen sehen den Himmel offen. Erde und Himmel berühren sich. In der Sprache der Bibel sind das die Momente, die Menschen am dichtesten ergreifen. Heute benutzen wir andere Bilder dafür.

Predigt

Wir Menschen wünschen uns das Leben oft aufregend. Raus aus dem alltäglichen Trott, aus dem immer gleichen Einerlei. Ganze Industriezweige sind damit beschäftigt, Menschen Abwechselung und Highlights zu bieten. Von Unterhaltungsmanagern werden immer neue Ideen kreiert, wie das Leben pulsierender, attraktiver und spannender werden kann. Die Sehnsucht nach dem Kick ist groß.

Da ist die "weise Alte" in Hemingways Roman "Wem die Stunde schlägt", viel nüchterner. Was die aufregenden Momente im Leben angeht, lautet ihre Erfahrungsregel: "Nur dreimal im Leben wackelt die Erde."

Nur dreimal im Leben wackelt die Erde. Mach’ dir nichts vor. Das Leben kann dich nicht jeden Tag von den Socken reißen. Die meisten Tage verlaufen eintönig und banal, sind angefüllt mit Pflichten und immer gleichen Tätigkeiten.

Nur dreimal im Leben wackelt die Erde. Das sind die Situationen und Momente, wo’s dich gepackt hat. Das sind die Situationen und Tage, die sich fest in die Erinnerung eingraben. Das ist der Augenblick, wo junge Eltern zum ersten Mal ihr Kind im Arm halten. Das ist der Augenblick, wo ein Jugendlicher spürt: Da hat’s gefunkt – und das war nicht nur geflunkert. Das ist der Augenblick, wo es heißt: Du hast diese Stelle.

Nur dreimal im Leben wackelt die Erde. Das sind aber auch Situationen und Momente, wo dir der Boden unter den Füßen wirklich schwankt. Wenn eine große Sorge dich quält, wenn Krankheit plötzlich in dein Leben oder deine Familie einschlägt, wenn Menschen, ohne die du dir dein Leben nicht vorstellen kannst, von deiner Seite gerissen werden.

Diese Glücksmomente und diese Schreckensstunden, das sind die Punkte im Leben, wo die Erde wackelt.

Liebe Leser, diese Lebenserfahrung verdichtet die weihnachtliche Liturgie in einem Spannungsboden von der Heiligen Nacht zum Stefanustag: Da feiern wir die Geburt eines Kindes, die Engel verkünden vom Himmel her eine große Freude und singen ihr Gloria in excelsis deo, die Hirten beginnen vor Freude zu rennen und werden nicht fertig mit dem Staunen.

Einen Tag später, am Stefanustag, sehen wir einen Menschen sterben. Unter dem Steinhagel bricht er zusammen. Und trotzdem heißt es: Er sieht den Himmel offen stehen.

Wie in einem Brennpunkt wird an Weihnachten die Erfahrung der "weisen Alten" gebündelt. Die Erde wackelt, wo Leben dich in seiner Schönheit aber auch in seinem Schrecken packt. Daran hat sich auch im Leben moderner Menschen nichts geändert: Es sind nicht die künstlich herbeigeführten Kicks, bei denen die Erde wirklich wackelt, sondern die nicht kalkulierbaren Augenblicke, wo ich mit Leben und Tod konfrontiert werde. Und es sind nach wie vor diese Augenblicke, in denen die Freude an Gott und die Frage nach Gott am stärksten auftaucht.


Pfarrer Stefan Mai

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