Ruhe auf der Flucht

Christmette 2001

Einleitung

Weihnachten, so sagen wir, ist das Fest der Familie. Familie ist der Inbegriff für Geborgenheit, Verständnis und menschliche Wärme. Familie ist deshalb aber auch der Ort, wo Unverständnis, Beziehungsschwierigkeiten und Gefühlskälte besonders hart erlebt werden. Besonders an Weihnachten werden die Sehnsüchte nach einer heilen Familie wach – und die Enttäuschungen über schwierige Familienkonstellationen bedrückend. Familie wird an Weihnachten verschieden erlebt.

Predigt

Idyllisch soll Weihnachten sein. Etwas fürs Gemüt, für die Stimmung. Etwas für Herz und Seele. Ein Ausgleich für die Mühen und Strapazen des Jahres. Weihnachten soll für viel Schweres entschädigen. An Weihnachten wünscht man sich ein Stück Himmel auf Erden.

Idyllisch ist das Bild, das Fritz von Uhde von Weihnachten malt. Es hängt im Schweinfurter Georg-Schäfer-Museum. Maria und Josef haben auf dem Weg durch den Wald Rast eingelegt. Sie sitzen fast wie bei einem Picknick auf einer Blumenwiese. Zwischen den Bäumen grast friedlich der Esel.

Aber der Schein trügt: Der Wald ist undurchsichtig, kein Weg ist erkennbar. Die Frau sieht schlapp aus, völlig fertig lehnt sie an einem Baum, die Augen hat sie vor Erschöpfung geschlossen. Alles liegt ungeordnet herum: das Bündel mit den Habseligkeiten einfacher Leute, daneben die Laterne für die Nacht. Der große Korb mit dem Werkzeug des Zimmermanns ist umgekippt.

Der Ruhepunkt im Bild ist Josef. Er sitzt auf einem Baumstumpf, hat das Kind in den Armen. Er hat es gerade gefüttert, wie der Teller zu seinen Füßen anzeigt.

Das Bild wirkt ruhig, steckt aber voller Probleme. So wie das Leben des Mannes, der es im Jahr 1895 gemalt hat: Fritz von Uhde hat seine Frau früh verloren. Mit drei Kindern stand er allein da. Mir scheint: In diesem Weihnachtsbild malt sich Uhde in seiner Situation selbst.



Er sieht oft vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr, weiß nicht den Weg, wie es weitergehen soll. Die Erinnerung an seine Frau ist ständig da, aber sie kann ihm nicht mehr helfen. Er spürt die Verantwortung für seine Kinder und möchte Beziehungsperson und Ruhepol für sie sein. Dem gegenüber verliert seine Arbeit an Gewicht. Sie steht am Rande, wie der Handwerkskorb des Josef es andeutet. Auf große Reichtümer kommt es ihm nicht an. Das zeigen die wenigen Habseligkeiten.

Für die Zeit am Ende des 19. Jahrhunderts war das Weihnachtsbild des Fritz von Uhde ungewöhnlich: Nicht die Mutter, sondern der Vater wiegt das Kind in den Armen. Maria ist nicht in Blau und Rot gehüllt, sondern angezogen wie bayerische Magd. Für fromme Augen war dieses Bild provozierend. Maria nicht im Mittelpunkt, nichts von heiliger Atmosphäre zu spüren. Gehässige Briefe gab es gegen dieses Bild.

Aber trotz fehlender typischer religiöser Motive trägt dieses Weihnachtsbild eine mutmachende religiöse Botschaft in sich: Der Maler, der sich in seiner schwierigen Lebenssituation als Josef malt, sagt mir:

Ich glaube daran, dass innere Ruhe auf meinem Lebensweg möglich ist, auch wenn er manchmal ganz schwer zu gehen ist.

Ich glaube daran, dass Beziehungen zu Menschen, die ich einmal gern gehabt habe, bleiben, auch wenn sie nicht mehr da sind.

Ich glaube daran, dass es das Wichtigste ist, was ich einem Menschen vermitteln kann: Du wirst getragen, angeschaut, in den Arm genommen.

Ich glaube daran, dass ich selbst genügend Kraft geschenkt bekomme, wenn der andere, den ich bräuchte, nicht mehr kann.

Ich glaube an die Botschaft von Weihnachten: dass mir im Leben oft unerwartet geschenkt wird, was ich mir selbst nicht geben kann.

Fürbitten

Herr, unser Gott, in dieser Nacht denken wir an die Menschen, die uns besonders nahe stehen, und an alle, um die wir in Sorge sind. Höre du unsere Bitten:

– Wir beten für die Kinder überall in der Welt,

dass ihre kleinen und großen Hoffnungen nicht enttäuscht werden,

dass sie in eine freundliche Welt hineinwachsen

und darin Wärme und Geborgenheit finden.

– Wir beten für alle, die sich in Partnerschaft oder Freundschaft verbunden sind,

dass sie Freundlichkeit und Offenheit ausstrahlen,

dass sie ihre Konflikte bewältigen,

Wege zueinander und miteinander finden

und lernen, Enttäuschungen zu verkraften.

– Wir beten für die Einsamen und Kranken,

dass sie Menschen finden, die sich ihnen zuwenden

und ihnen die Mauern des Alleinseins überwinden helfen.

– Wir beten für unsere Verstorbenen,

dass sie bei Gott Ruhe und Frieden gefunden haben

und die Erinnerung an sie uns stark macht.


Pfarrer Stefan Mai

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