Denken Christen voraus?

Predigt zum 1. Advent am 02.12.2001 (A/Adv 1)

Ist es Ihnen schon einmal aufgefallen? Das bürgerliche Jahr und das Kirchenjahr decken sich nicht. Das Kirchenjahr endet mit der Woche nach dem Christkönigssonntag und beginnt mit dem ersten Advent, vier Wochen früher als das bürgerliche Jahr.

Will Kirche wieder einmal eine extra Wurst braten oder ist sie total veraltet, geht eben nicht mit der Zeit? Ehrlich gesagt, ich bin froh, dass Kirchenjahr und bürgerliches Jahr sich gegenseitig stoßen, zeitlich um vier Wochen gegeneinander versetzt. Ich bin froh, dass Kirche hier sperrig bleibt. Denn somit wird der erste Advent zu einer Anfrage.

Dieser eigensinnige Neujahrstag fragt die Kirche selbst: Kirche hältst du wirklich, was du dir mit diesem eigenen Anfang des Kirchenjahres auf die Fahnen schreibst. Oder bist du vielleicht zu sehr verbürgerlicht, vielleicht sogar eine Kirche der Bourgosie geworden? Bist du vielleicht inzwischen viel zu sehr nur eine Verdoppelung dieser Welt? Sagst du vielleicht viel zu oft: "Wir auch, wir auch!", anstatt der Zeit voraus zu sein, statt vorzudenken und entscheidende Impulse zu setzen. Trittst du nicht allzu gern in der Rolle eines phantasielosen Oberlehrers auf, der hochnäsig die Entwürfe anderer korrigiert und ihm vorhält, was sie falsch gemacht haben, statt selbst neue Entwürfe zu liefern?

Das bürgerliche Jahr beginnt mit dem 1.Januar mit Feier und Feuerwerk in der Nacht. Der erste Tag wird dann landesüblich verschlafen. Der erste Tag des Kirchenjahres beginnt mit Mahnungen zur Wachsamkeit: "Bedenkt doch die Zeit: die Stunde ist gekommen, vom Schlaf aufzustehen!" (Röm 13,11). "Seid also wachsam. Denn ihr wisst nicht, an welchem Tag der Herr kommt … Darum haltet auch ihr euch bereit, denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht vermutet!" (Mt 24,42.44).

Die Texte des ersten Advents fordern am Beginn des neuen Kirchenjahres dazu auf, sich nicht einfach einlullen zu lassen von den Alltagsgeschäften, Trends und Moden. Sie fordern auf, sensibel zu sein für Entwicklungen, die sich anbahnen; eher als andere spüren, was in der Luft liegt.

In der Luft liegt, so glaube ich, die Frage, wie wir in unserer Gesellschaft mit Alten, Kleinen, Kranken und Sterbenden umgehen. Die Frage ist: Laufen wir als Christen – wie es meist geschieht – den derzeitigen Trends hechelnd hinterher: dass der Leistungsstarke bewundert und glorifiziert wird; oder setzen wir deutliche Akzente: dass es auch in der modernen Gesellschaft einen Platz geben muss für Menschen, die noch nicht oder nicht mehr Leistungsträger sein können. Die Frage ist: Haben wir als Christen die Courage und auch die Überzeugungskraft, unserer Gesellschaft klar zu machen, welch ein Verlust und welche Verarmung es wäre, die gespeicherte Weisheit und das angesammelte Lebenswissen der alten Menschen einfach als nichtsnutzigen Schrott wegzuwerfen oder in vornehmen Seniorenheimen als Sonderwelt dahinleben zu lassen.

Die Frage ist: Sind wir sensibel genug, dass eine Welt der Leistung, der Effektivität nicht nur unmenschlich sondern auch gefährlich werden kann, wenn für die Unbekümmertheit und zwecklose, unberechnende Spiel der Kinder immer weniger Platz ist? Können wir als Christen unsere Gesellschaft dafür sensibilisieren, dass nicht nur an Computern, in Produktionsstätten und Hightech-Planungsbüros und Forschungslabors wichtige Weichen für die Zukunft gestellt werden, sondern dass kostbarster Lebensunterricht an Kranken- und Sterbebetten erteilt wird?

In der Luft liegt meiner Ansicht nach auch die Anfrage an unseren Gottesglauben. Wenn im Namen der Gerechtigkeit nach dem Mund der Mächtigen die Feinde der Demokratie ausgelöscht werden sollen – machen da Christen deutlich genug, dass dies nur ein kurzsichtiger Weg ist. Machen sie deutlich genug, dass Friede nur im Gespräch und in der Solidarität zwischen den Religionen zu entwickeln ist? Kaum einer hat wahrgenommen, dass der alte Papst gerade aus diesem geistlichen Hintergrund heraus den 14. Dezember zu einem Fasttag ausgerufen hat. Viele lächeln über diesen Vorschlag. Aber wer realisiert schon, dass dieser Tag der letzte Tag des Ramadan ist – und somit als Solidaritätsaktion mit dem Islam und eine Vorbereitung auf das große Treffen der Weltreligionen am 24. Januar in Assisi ist.

Lieber Leser! Das Kirchenjahr geht um vier Wochen dem bürgerlichen Jahr voraus. Ich bin überzeugt: Vieles würde heute anders ausschauen, wenn Christen wirklich ihrer Zeit voraus wären.


Pfarrer Stefan Mai

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