Ich habe abgeschlossen oder Immer noch offen

Predigt beim Seniorengottesdienst am 15.11.2001

"Ich habe abgeschlossen!" Wenn alte Menschen diesen Satz in den Mund nehmen, dann wollen sie meist zum Ausdruck bringen: Das Leben liegt hinter mir. Vorbei ist die Kinder- und Jugendzeit. Längst vorbei ist die Ausbildungszeit. Vorbei ist das Berufsleben. Vorbei die aktive Zeit. Längst sind die Kinder aus dem Haus. Auch der Ehepartner ist schon tot. Von den guten Freunden und Freundinnen, wie viel leben denn noch?

"Ich habe abgeschlossen!" Wenn alte Menschen diesen Satz in den Mund nehmen, dann mischt sich oft ein Ton der Resignation mit in die Stimme: Vom Leben erwarte ich mir eigentlich nichts mehr. Große Sprünge kann ich sowieso nicht mehr machen. Die Kraft ist weg. Der Geist nimmt ab. Die Gebrechen nehmen zu. Was soll´s noch?

Oft folgt dann diesem innerliche "Abschließen" ein äußeres Abschließen, ein stetiger sozialer Rückzug. Mehr und mehr wird die Tür geschlossen. Mehr und mehr bleibt sie geschlossen.


So verständlich manchmal dieser Satz "ich hab´ abgeschlossen" bei alten Menschen ist, so stellt er sich dennoch angesichts der Realität als falsche Behauptung heraus. Denn auch für alte Menschen ist noch sehr vieles offen. Offen ist, wie viel Zeit zum Leben noch bleibt. Offen ist, was ich in dieser Zeit noch alles noch tun und entscheiden muss. Offen ist, was noch alles durchgekämpft und erlitten werden muss. Offen ist, wie viel Kummer und wie viel Freude noch auf einem wartet. Offen ist, wie , wann und wo mein Sterben sein wird.

Trotz allem, was ich schon abgeschlossen habe, was schon hinter mir liegt, was ich im Leben geworden bin, ist es noch offen, wer ich am Ende meines Lebens vor Gott sein werde.


Liebe Senioren!

Ob sich alte Menschen, die mit vielem im Leben bereits abgeschlossen haben, sich nicht manches Offene in ihrem Leben bewusst vor Augen halten sollten, um sich eine ähnliche Lebenshaltung zu bewahren, wie sie M.L. Kaschnitz für sich einmal in ihrem Gedicht "Bilanz" beschrieben hat:

"Bekenne, dass du den Sinn deines Lebens immer noch nicht herausgefunden hast, obwohl du schon so alt bist.

Dass du geliebt hast, aber unzureichend,

dass du gekämpft hast, aber mit zaghaften Armen.

Dass du an vielen Orten zu Hause warst,

aber Heimatrecht hast an keinem.

Dass du dich nach dem Tode sehnst und ihn fürchtest.

Dass du kein Beispiel geben kannst als dieses:

Immer noch offen."


Pfarrer Stefan Mai

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