Denk an den Tod, versteh’ zu leben!

Predigt zu Allerseelen 2001

Einleitung

Wir sind heute hier, um an unsere Toten zu denken. Viele von uns sind heute wieder einmal bewusst durch die Grabreihen geschlendert, haben nach bekannten Namen gesucht, standen vor den Gräbern ihrer engsten Angehörigen. Viele Erinnerungen sind dabei hochgekommen – und bei allem Erinnern auch der Gedanke: Wie nahe bist du selbst schon dem Grab?

Predigt

"Schreinerwerkstatt", so heißt das um 1876 entstandene Bild von Wilhelm Trübner, das im Schweinfurter Schäfer-Museum zu sehen ist. Ein Schreiner sitzt bei einer Arbeitspause auf seinem großen Hackstock, er nimmt einen Schluck aus seinem Maßkrug und schaut zum Werkstattfenster hinaus, durch das gerade die Abendsonne hereinfällt.

In der Werkstatt steht, was ein Schreiner zur Arbeit braucht: eine Hobelbank am Fenster, der Hackstock, auf dem er die Sprossen für die Leitern und die Fasstauben grob vorhackt, und hinter ihm die Schnitzbank. An den Wänden hängen die Arbeitswerkzeuge, Sägen und Bohrer, am Boden liegt manches Unfertige herum.

In der Werkstatt wird es langsam Abend. Die Sonne steht schon tief. Ihr mildes Licht fällt auf eine Wiege, die auf der Hobelbank steht, auf eine Uhr an der Wand, auf das Gesicht des Schreiners und auf ein fertiges Grabkreuz, das zusammen mit einem Wanderstab im Eck lehnt.

Das Bild scheint symbolisch auch den Lebensabend des Schreiners andeuten zu wollen: Sein Gesicht ist schon älter. Er sitzt bereits im hinteren Drittel der Werkstatt: vor ihm die Wiege, über der Wiege schlägt die Uhr die verrinnenden Stunden des Lebens, hinter ihm steht bereits das Grabkreuz.


Auf den ersten Blick fast ein memento mori-Bild: Mensch, denk an den Tod, auch wenn du noch mitten im Arbeits- und Lebensprozess stehst. Mit jedem Stundenschlag gehst du mit deinem Wanderstab einen Schritt auf dein Grab zu.

Aber trotz dieser harten Tatsachen sitzt der Schreiner ruhig und gelassen auf seinem Hackstock – und genießt seinen Schluck Most. Er hat zwar das Grabkreuz schon im Rücken, aber er starrt nicht ängstlich darauf. Er kann gut damit leben. Sein Blick allerdings wandert nach draußen, dorthin, wo das Leben sich abspielt. Er scheint fast auf das Leben anzustoßen. Auf jeden Fall arbeitet er gerade an einer Wiege: Kinder der übernächsten Generation werden darin liegen. Das Leben geht nach ihm weiter. Er leistet seinen Beitrag dafür und er kann ohne Verbitterung zuschauen.

Auf den zweiten Blick wird dieses memento mori-Bild, dieses Denk-an-den-Tod-Bild, zu einem Vergiss-nicht-zu-leben-Bild. Es sagt mir: Auch wenn schon das Abendlicht auf dein Leben scheint, lass dich nicht aus der Ruhe bringen. Auch wenn noch so vieles Unfertige um dich herumliegt, lass dir nicht einreden, möglichst schnell noch alles zu Ende bringen zu wollen. Schau mit gütigem Blick auf das Leben draußen, das schon vielleicht bald ohne dich weitergeht. Aber genieß auch das Leben, das dir noch vergönnt ist. Oder mit den Worten des Psalmisten ausgedrückt: "Die Kostbarkeit der Tage zu zählen lehre uns, dann gewinnen wir ein weises Herz" (Ps 90,12).


Pfarrer Stefan Mai

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