Wenn Erwachsene in die Knie gehen ...

Predigt zu Allerheiligen 2001

Einleitung

Was löst das Stichwort "Allerheiligen" in Ihnen aus? Ich vermute: "Gräbergang". Aber das hat nur wenig mit Allerheiligen zu tun. Der Gräbergang fällt nach der Tradition auf den Allerheiligen-Nachmittag. Am Morgen gedenkt die Kirche "aller Heiligen". Vor allem der vielen anonymen Heiligen, die in keinem Kalender stehen.

Wenn ich aber daran denke, dass an diesem Festtag die Seligpreisungen verlesen werden, dann geht es weniger darum, dass wir auch noch die heilig sprechen wollen, die im Heiligenkalender vergessen wurden, sondern es geht eigentlich darum, uns Lebenden Haltungen vor Augen zu stellen, die zeigen, was es heißt: an Gott zu glauben. Und das sind Haltungen, wie sie jedermann und jede Frau leben kann.


Predigt

Vor einigen Tagen bat mich eine junge Frau, sie für die Taufe ihrer beiden Kinder im Alter von 2 und 7 Jahren vorzubereiten. Beim Hausbesuch erzählte sie mir: Sie stammt aus Kasachstan und ist in einer atheistischen Umwelt groß geworden. Ich spürte gleich: Diese Frau möchte die Vorbereitung nicht möglichst schnell, billig, kurz und schmerzlos, sondern sie hat Fragen über den Glauben und an uns Gläubige. Weil ich heraushörte, dass einige aus ihrer russland-deutschen Verwandtschaft nach der Einreise in die evangelische Kirche aufgenommen wurden, fragte ich sie, warum sie nicht auch ihre Kinder evangelisch taufen lassen möchte. Ihre Antwort war: Wissen Sie, Herr Pfarrer, was mich bei euch Katholiken bewegt? Dass ihr vor Gott in die Knie geht. Wenn ich da bei euch mitmache, spüre ich: Ich bin klein und schwach. Aber Gott hilft mir. Und ich finde es wichtig, dass Kinder sehen: Erwachsene gehen vor Gott in die Knie. Und sie schämen sich nicht. Sondern sie stehen dazu: Das Leben kann man nicht nur mit eigener Kraft meistern.

Liebe Leser, für mich gibt es keine bessere Deutung für die erste Seligpreisung: Selig die arm sind vor Gott (Mt 5,3). Das hat nichts zu tun mit materieller Armut oder gar geistiger Beschränktheit. Das hat nicht zu tun mit Selbstdemütigung und auch nichts mit besonderer Frömmigkeit.

Arm sein vor Gott, das ist eine Lebenshaltung. Wer "arm ist vor Gott", der weiß: Ich kann Leben gestalten, aber ich kann nicht übers Leben verfügen. Im Leben kommt es auf meinen Einsatz, auf mein Können an, aber ich habe keine Garantie auf den Erfolg. Wer "arm ist vor Gott", der ist stolz auf seine Leistung und sein Engagement, aber der sagt nie: Das ist allein mein Werk! Wer "arm ist vor Gott", der weiß: Ich bin viel wert, aber der lässt auch andere neben sich gelten. Wer "arm ist vor Gott", der täuscht anderen nicht vor: Ich bin ein kleiner Herrgott. Wer "arm ist vor Gott", der tritt selbstbewusst auf, aber der spielt sich nicht auf. Wer "arm ist vor Gott" – und das hat mich die junge Frau wieder neu sehen lassen–, der steht zu sich selbst, aber kniet sich vor Gott.


Pfarrer Stefan Mai

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