Predigt zum szenischen Spiel Der Wolf von Gubbio

klanglich dargestellt durch den Kinderchor MaxiKoKi

Die meisten von uns kennen das Kinderspiel "Wer fürchtet sich vor dem schwarzen Mann?" Der schwarze Mann steht einer Gruppe gegenüber und fragt frech und überheblich: "Wer fürchtet sich vor dem schwarzen Mann?" "Niemand!" - schallt es ihm entgegen. "Wenn er aber kommt?" fragt er nach. "Dann laufen wir davon". Und schon rennt alles wild, um nicht erwischt zu werden.

Dieses Kinderspiel bringt eine große Wahrheit über den Menschen zum Ausdruck. Der Mensch ist von Natur aus ein Flüchter. Meistens tut er nur ein wenig mutig, aber wenn es ernst wird, dann hofft er nur darauf, dass es ihn nicht erwischt.

Der schwarze Mann hat viele Namen: Ein Problem, das sich nicht so recht in den Griff bekommen lässt, ein schwieriges Gespräch, unangenehme Aufgaben, Menschen, mit denen ich nicht zurecht komme. Im Umgang mit diesen kleinen schwarzen Männern zeigen Menschen schon oft wenig Mut. Noch weniger vor den großen schwarzen Männern. Da heißt oft die Devise: Nichts wie davon. Oder wenn dies nicht klappt, Spezialisten beauftragen, die eine Gewaltlösung herbeiführen.

Die Kinder unseres Kinderchores Maxikoki haben uns heute die alte Franziskuslegende vom Wolf von Gubbio klanglich dargestellt. Franziskus weiß um die Gefährlichkeit des Wolfes. Er weiß, dass dieser die Menschen in Angst und Schrecken versetzt. Die Leute von Gubbio verkriechen sich in ihren Häusern. Die Mutigen machen sich auf den Weg, den Wolf aufzustöbern und zu töten. Doch trotz Abraten entschließt sich Franziskus zu einem anderen Weg. Er will dem Wolf im Dialog entgegentreten. Er will ihm in die Augen schauen. Franziskus bekommt das Gebrüll und den offenen Rachen des Wolfes zu spüren. Und doch spricht er ihn an mit "Bruder Wolf". Er hält dem Wolf seine Grausamkeiten vor, spürt aber zugleich dahinter einen nicht gestillten Hunger, der den Wolf zur Bestie macht. Franziskus reicht dem Wolf sogar seine offene Hand und lässt nicht die Faust oder den gekrümmten Finger an der Waffe sprechen. Wider Erwarten, gegen alle menschliche Berechnung wird das scheinbar Unmögliche Wirklichkeit. Ein neues Miteinander wird möglich.

Liebe Leser! Für mich hat gerade zur Zeit diese alte Franziskuslegende ungeheuere Aktualität. Zu schön, um wahr zu sein! Mit dieser Einstellung kannst du gegen die Wölfe unserer Zeit nichts machen! Die ändern sich nicht! Die legen es nur darauf an, dich zu fressen! So lautet es überall.

Die alte Franziskuslegende fragt dagegen: Warum haben wir so wenig Vertrauen in Versuche, mit den Wölfen zu reden? Warum geben wir dem Dialog mit den Wölfen so wenig Erfolgchancen? Warum scheint es nur die Alternativen zu geben, vor den Wölfen auszureißen, mit den Wölfen zu heulen oder sie zu jagen und die Waffen klirren zu lassen?

Es gibt sie doch, die Gegenbeispiele im Sinne des Franziskus. Das Beispiel eines Kardinals Carlos Belo in Ost- Timor. Das Beispiel eines Francisco Silota in Mosambik, die weder vor den Wölfen ausgerissen sind, noch zur Hetzjagd gegen die Wölfe aufgerufen haben, sondern mit den Wölfen sprachen und so zu Friedensstiftern in kriegerischen Konflikten geworden sind. Vielleicht wäre dieser Weg gegen allen Anschein auf Dauer der erfolgreichere und menschlichere.


Pfarrer Stefan Mai

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