Einführung zum Tag der Ewigen Anbetung in St. Maximilian Kolbe am 10.10.2001

Als kleiner Gymnasiast sang ich begeistert ein religiöses Lied, das unser Musiklehrer komponiert hatte: "Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr je es gehört." Schon ein Thomas von Aquin dichtete über die Unbegreiflichkeit Gottes das Lied, das wir eben sangen: "Augen, Mund und Hände täuschen sich in dir."

Und doch ist es von jeher eine menschliche Sehnsucht, Gott zu erfahren, ihn zu begreifen, zu erahnen, wie er wirklich ist, ihn zu hören, ihn zu spüren. Deswegen machen wir uns Vorstellungen und Bilder von ihm, nennen ihn mit Namen, um uns an den Unbegreiflichen, den Unsichtbaren heranzutasten.

Das Judentum ist im Gegensatz zur christlichen Religion eine radikal bilderlose Religion. "Du sollst dir kein Bildnis machen!" ist einer der Kernsätze des Judentums. Die Weigerung, Gott darzustellen, entspringt aus der tiefsten Überzeugung, dass jedes Bild von Gott, das wir uns machen, falsch ist, dass kein Bild den unbegreiflichen Gott nicht fassen und einfangen kann. Deswegen war der Raum des Allerheiligsten im Tempel von Jerusalem eindrucksvoll gestaltet. Vor dem Allerheiligsten hing ein großer Vorhang, und der Raum des Allerheiligsten dahinter war leer. Eine ausdrucksstarke Inszenierung der Unbegreiflichkeit Gottes.

Heute am Tag der Ewigen Anbetung hängt auch in unserer Kirche ein großer Vorhang vor dem Altar. Das Allerheiligste, wie wir Christen die konsekrierte Schauhostie in der Monstranz nennen, wird heute – in ein mystisches Licht eingetaucht – hinter diesem Vorhang stehen.

Wer sich auf diese Inszenierung einlässt, der wird eine geheimnisvolle
Stimmung spüren dürfen, dem wird ein Stück neu bewusst:
- Gott bleibt immer verborgen
- Gott bleibt immer ein Geheimnis
- Gott bleibt immer unbegreiflich
- Und doch bleibt er anziehend und faszinierend.
- Gott als das große Geheimnis lässt einfach nicht los


Predigt im Schlussgottesdienst der "Ewigen Anbetung" am 10.10.2000

Vor 25 Jahren stieß ich auf ein Gedicht des Russen Jewgenij Jewtuschenko, das mich sehr nachdenklich gemacht hat. Es ist ein schlichtes und sehr einfaches Gedicht. Man kann es sofort verstehen:

Jeder hat seine eigene, geheime, persönliche Welt.

Es gibt in dieser Welt den besten Augenblick,

es gibt in dieser Welt die schrecklichste Stunde;

aber dies ist alles ist uns verborgen.

Und wenn ein Mensch stirbt,

dann stirbt mit ihm sein erster Schnee

und sein erster Kuss und sein erster Kampf..

All das nimmt er mit sich.

Was wissen wir über die Freunde, die Brüder,

was wissen wir schon von unserer Liebsten?

Und über unseren eigenen Vater

Wissen wir, die wir alles wissen, nichts ...


Jeder Mensch, sagt Jewtuschenko, ist eine Welt für sich, eine eigene, unverwechselbare Welt. Die Ereignisse und Erlebnisse des Lebens haben sich tief in ihm eingegraben. Tief in unserm Unterbewusstsein ruht die Erfahrung der ersten Liebe, die Erfahrung des ersten Schmerzes, das Erlebnis des ersten Schnees. All diese Erfahrungen gehören ihm allein. Und weil jeder Mensch seine ganz persönlichen Erfahrungen hat, ist jeder Mensch ein unendlich kostbares und unbegreifliches Geheimnis.


Und doch möchten wir Menschen den anderen besser begreifen und verstehen. Nicht nur aus Neugier, sondern auch aus dem Gefühl heraus, ihn dann leichter einschätzen, besser mit ihm umgehen zu können und besser mit ihm zurechtzukommen.

Ich frage mich aber, ist es nicht gerade das Geheimnis, das jeder Mensch in sich birgt und in sich trägt, das, was ihn auf lange Sicht hin anziehend macht? Und ist es nicht gerade dieses Geheimnis um sein Personsein, das uns Respekt vor der Andersartigkeit abverlangt und immer wieder neu auf Entdeckungsreise zu ihm einlädt? "Es wäre mir angst vor dem Tag", meinte einmal ein Schriftsteller, "an dem ich zu meiner Frau sagen müsste: Ich kenne dich. Denn dann wäre unsere Liebe tot."

Liebe Leser! Heute am Tag der ewigen Anbetung stand das Allerheiligste hinter diesem großen Vorhang. Zeichen dafür, dass Gott immer ein Geheimnis für uns Menschen bleibt: Nie zu begreifen, nie zu Gesicht zu bekommen, nie zu verstehen, nie zu fassen. Das Allerheiligste hinter dem Vorhang ist aber auch ein Zeichen dafür, dass von diesem Geheimnis eine ungeheure Faszination ausgeht, es anziehend wirkt wie ein Magnet, auch wenn wir nicht wissen, warum, und uns gläubige Menschen nicht in Ruhe lässt. Das Allerheiligste hinter dem Vorhang ist letztlich auch ein Zeichen dafür, dass die Schleier um das Geheimnis Gottes erst fallen und der Vorhang – wie in der Passionsgeschichte – erst im Moment des Todes zerreißt. Bis dahin wird Gott sich diese große Überraschung, wie er ist, was er endgültig für uns bedeutet, vorbehalten. Das wird auch der Zeitpunkt sein, bis wir Menschen dem eigenen Geheimnis und dem Geheimnis des Lebens auf die Spur kommen. "Am Ende der Straße, mein Bruder", so singt ein junge Frauenstimme im Abschlusssong des Films "Jesus’ Son",
"wirst du endlich begreifen, am Ende der Straße wirst du endlich versteh’n."


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de